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Kolumne

Essay-Journal: AUGEN

Weil er auf seinem Weg nur Augen für den Sternenhimmel hatte, soll Thales, dem ersten griechischen Philosophen, das Missgeschick passiert sein, in einen Brunnen zu fallen, und eine thrakische Magd darüber gelacht haben. Philosophie- und Wissenschaftsverächter können jetzt mitlachen. Und wenn es gar nicht so gewesen ist? Wenn Thales etwa durchaus sehenden Auges zunächst in den Brunnen hineingestiegen ist, um mangels Fernrohr das vertikale Blickfeld dieses Ortes für seine Beobachtungen zu nutzen? Wenn das Mädchen sodann hinzutrat, um den Forscher zu befragen, und sich darüber freute, was er ihr berichten konnte?

Der erste Philosoph war Astronom. Ludwig Feuerbach erklärte sich das wie folgt: "Das Auge ist himmlischer Natur. Darum erhebt sich der Mensch über die Erde nur mit dem Auge; darum beginnt die Theorie mit dem Blicke nach dem Himmel." Goethe sprach von der "Sonnenhaftigkeit" des Auges, ohne die es die Sonne nie erblicken könnte, und meinte damit: "Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?" Auf ihre nichtchristliche Art gingen beide mit dem evangelischen Barockdichter Angelus Silesius d'accord, der es so ausdrückte: "Zwei Augen hat die Seel: eines schauet in die Zeit, das andere richtet sich hin in die Ewigkeit." Ebenfalls ähnlich der "Transzendentalist" Emerson: "Auch die Augen haben ihr täglich Brot: den Himmel."

Als Menschen sind wir begabt, weiter und tiefer das Sichtbare in Augenschein zu nehmen, sozusagen ins Herz der Natur zu blicken. Als gewöhnlichen Leuten möchte man uns die Fähigkeit zu solcher Wesensschau nicht zutrauen. Deshalb ist es der Bibel nicht zu verdenken, wenn es dort an einer Stelle heißt: "Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an." (1 Sam 16,7) Solange wir unsere Menschlichkeit nicht ausschöpfen, scheint uns nur ein Gott retten zu können, dessen Überlegenheit doch allein menschlichen Überlegungen geschuldet ist. So gilt es nur, mit Lichtenberg gesprochen, dass wir einsehen: "Alles hat seine Tiefen. Wer Augen hat, der sieht alles in allem."

QUELLEN
  • Ralph Waldo Emerson (1836): Die Natur
  • Ludwig Feuerbach (1841): Das Wesen des Christentums
  • Hans-Georg Gadamer (1983): Lob der Theorie
  • Johann Wolfgang von Goethe (1796): Xenien
  • Georg Christoph Lichtenberg (ab 1764): Sudelbücher
  • Lutherbibel (revidierte Textfassung von 1984)
  • Angelus Silesius (1675): Cherubinischer Wandersmann
(ABC-Bild: Tim Reckmann / pixelio.de)