Für die Wege, die ihn zum Erfolg führen, braucht Johannes Mallow keine Beine. In Gedanken öffnet er das Gartentor seines Elternhauses im brandenburgischen Rathenow, bewegt sich vorbei am eBay-Laden seiner Mutter und der sandfarbenen Doppelhaushälfte, in dem seine Mathelehrerin wohnte. In Sekundenschnelle überquert er die Straße, lässt den damals gerade neu eröffneten Dönerladen im Eckhaus hinter sich liegen, bis er an seinem alten Schultor ankommt.
Mit dem Rollstuhl wäre die Strecke für ihn kaum befahrbar, zu viel Bordstein, zu viel Kopfsteinpflaster, zu viele Treppen. Aber in der Welt des Gedächtnissports sind Wege wie dieser nur Kopien der echten Welt, Wege im Geiste. Es ist nämlich gar nicht so einfach, sich ohne Hilfstechniken eine Abfolge von Dingen zu merken. Deshalb greifen Gedächtnissportler wie Mallow auf die sogenannte Loci-Methode zurück: Wege sind dabei nichts anderes als ausgedachte Strukturen, mit einer festen Reihenfolge von Plätzen - in diesem Fall eBay-Laden, Doppelhaushälfte, Dönerladen. Auf diese Abfolge greift er immer wieder zurück, um die je nach Level irrsinnig langen Wege zu rekonstruieren - und die Konkurrenten zu übertrumpfen. Doch so kompliziert diese Welt von außen auch wirken mag, in ihr bewegt sich Mallow barrierefrei. Es ist eine Welt, die ihn nicht behindert.
Ein Zwei-Zimmer-Apartment in Sichtweite des Magdeburger Doms. Johannes Mallow öffnet die Tür zu seiner Wohnung, die sich an diesem Wochenende in eine Gedächtnissport-Arena verwandelt. Auf einem Ikea-Regal drängen sich silberne und goldene Pokale. Mallow, 40 Jahre alt, trägt Hoodie und Nike-Sneaker. Der Bart ein paar Tage alt, die braunen Haare zu einem Seitenscheitel gekämmt. Dazwischen ein fast jungenhaftes Gesicht, dem man das jahrelange Ringen mit sich selbst nicht ansieht.