Nach 100 Stunden im Krankenhaus stand Bernd Roschnik im März 2021 auf dem Krankenhausparkplatz. Er war geschockt. Und allein. Seine Frau und sein soeben geborener Sohn mussten noch in der Klinik bleiben. Er durfte nicht bei ihnen sein. Schließlich setzte er sich ins Auto und fuhr nach Hause. Fahrtüchtig sei er nicht gewesen, aber sein Stolz habe ihn davon abgehalten, jemanden um Hilfe zu bitten. So erzählt es der 32-Jährige heute. Die seines Babys sei für ihn traumatisch gewesen, sagt er.
Wenn eine Geburt besonders schwierig verläuft, wenn es zu einem Not-Kaiserschnitt kommt oder eine Frau gar Gewalt im Kreißsaal erlebt, kann bei der Mutter ein entstehen. Dabei ist es schwierig, wissenschaftlich zu erfassen, was Gewalt in der Geburtshilfe konkret bedeutet und wie viele Gebärende davon betroffen sind: Wo hören medizinisch notwendige Eingriffe auf und wo beginnt Gewalt? Bislang gibt es dazu nur wenige Daten und Forschungserkenntnisse.
Forschende der Psychologischen Hochschule Berlin fanden in einer Studie, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlicht sind, heraus, dass von 1.079 befragten Frauen 38 Prozent körperliche Gewalt erlebt haben. Gemeint ist damit etwa die Gabe von Medikamenten ohne Einverständnis der Frau, ein grober Umgang mit der Gebärenden bis hin zu schmerzhaften Eingriffen, wie einem ungewollten Dammschnitt oder dem sogenannten Kristellern, wenn die Hebamme oder die Ärztin mit großer Kraft auf den Bauch der Gebärenden drückt. 29 Prozent der befragten Frauen hatten psychische und verbale Gewalt erlebt: abfällige Bemerkungen, Beschimpfungen, Drohungen.
Ein Grund dafür ist die Personalsituation auf Geburtsstationen sowie die Überlastung von Hebammen, Ärztinnen und Ärzten. Je schlechter die Betreuung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu medizinischen Eingriffen und Übergriffen kommt, so die These von Expertinnen und Experten. Während die daraus möglicherweise entstehenden Traumata der Gebärenden in den vergangenen Jahren immer mehr Aufmerksamkeit bekamen, wird über die Folgen für die Partner allerdings wenig gesprochen. Dabei kann eine dramatische Geburt auch sie massiv belasten - währenddessen und in der Zeit danach. Erforscht ist das bislang kaum, was auch daran liegt, dass die betroffenen Männer selten über ihre negativen Erfahrungen sprechen und auch seltener Hilfe suchen.
" Be quiet and men up" - zu Deutsch "Reiß dich zusammen und sei ein Mann" - heißt eine Studie aus England (BMC Pregnancy and Childbirth: Daniels et al., 2020). Darin gaben die befragten Väter an, ihre Rolle als Mann so zu verstehen, dass sie nicht über ihre Erfahrung bei der Geburt zu sprechen haben. Bei einer weiteren Studie beschrieben mehr als die Hälfte der Teilnehmer, dass sie während der Geburt glaubten, ihr Kind oder ihre Partnerin könnte ernsthaft verletzt werden oder sogar sterben. Außerdem gaben 22 Prozent der Väter an, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu zeigen (Frontiers in Psychology: Webb et al., 2021). Dazu gehören Flashbacks, Albträume, Panikattacken oder auch eine erhöhte Reizbarkeit oder Aggressivität.
Als die Fruchtblase von Bernd Roschniks Partnerin platzte, fuhren sie direkt in die Klinik. Doch dort angekommen, setzten tagelang keine Wehen ein. Schließlich wurde die Geburt mit Medikamenten eingeleitet. Und selbst als die Kontraktionen endlich da waren, ging es nicht voran. Schließlich verkündete die Oberärztin, das Kind könne nicht auf natürlichem Wege kommen, und kündigte einen Kaiserschnitt an.
Roschniks Frau bekam den Aufklärungsbogen zum Unterschreiben. Darin stand, dass es erhebliche Komplikationen geben könne. Dazu gehören zum Beispiel schwerste innere Blutungen, was zur Entnahme der Gebärmutter führen kann. Diese möglichen Folgen eines Kaiserschnittes stehen standardmäßig auf jedem dieser Aufklärungsbögen, doch das direkt im Kreißsaal zu lesen, hatte für Roschnik heftige Folgen. Auf einmal war da diese riesige Angst, dass seine Frau oder das Kind sterben könnten. Eine Möglichkeit, an die der werdende Vater zuvor nie gedacht hatte. "Heute stirbt doch keiner mehr bei der Geburt", war er sich bis zu diesem Tag sicher gewesen. Auch hatte er mehr Angst um seine Frau als um sein Kind.
Das ist nicht ungewöhnlich in Situationen wie diesen. Tanja Sahib arbeitet seit über zwanzig Jahren mit Müttern und Vätern, die traumatische Geburten erlebt haben. Die Trauma-Therapeutin kennt viele solcher Geschichten wie die von Bernd Roschnik. Die Psychologin bietet in einer Beratungsstelle in Berlin-Pankow Einzel- und Paargespräche sowie eine Gruppe für Mütter nach belastenden Geburten an. Wenn die Frauen lebensbedrohlich gefährdet seien, hätten viele Männer ähnliche Gedanken wie Bernd Roschnik, sagt sie. Die Frauen spüren das Kind, lange bevor es zur Welt kommt, im Bauch und viele bauen schon vor der Geburt eine Bindung auf - bei den Vätern sieht das jedoch oft anders aus. Sahib kennt Männer, die während oder kurz nach der Geburt dachten: "Auf das Baby würde ich sofort verzichten, wenn ich nur meine Frau gesund zurückbekomme." Ein Gedanke, der zeigt, wie groß der Stress - und damit die möglichen psychischen Folgen - in solchen Situationen sein kann.
Während des Kaiserschnittes im OP saß Bernd Roschnik am Kopfende der Liege, auf der seine Frau lag. "Ich habe die ganze Zeit nur geweint." Er war überfordert, mit seiner Kraft am Ende. Voller Sorge beobachtete er das Ruckeln und Zerren, mit dem die Ärzte versuchten, das Baby aus dem Bauch der Mutter zu holen. Sein Sohn hatte seinen Kopf während der Geburt so gedreht, dass er im Geburtskanal feststeckte. Als er endlich geboren war, der nächste Schreck: Er schrie nicht und wurde sofort zur Untersuchung in ein anderes Zimmer gebracht.
Dieser Artikel ist bei Zeit Online und beim RedaktionsNetzwerk Deutschland erschienen.