Obwohl es verboten ist, kommunizieren Häftlinge und Angehörige über die Mauern der Untersuchungshaftanstalt Hamburg miteinander – gemeinsam mit belustigten Jugendlichen
Von: Lena Frommeyer
Abends, wenn die Springbrunnen abgeschaltet werden, steht Yvonne von der Bank in Planten un Blomen auf, läuft zum gemauerten Sichtschutz am Rande des Parks und verschwindet dahinter. Vor einer viel höheren Wand schaut sie sich nach links und rechts um, um sich zu vergewissern, dass sie kein Wachpersonal beobachtet. Dann pfeift sie. Über Stacheldraht hinweg blickt Yvonne auf die Fassade der Untersuchungshaftanstalt. Dort, hinter einem der vergitterten Fenster, in denen Licht brennt, sitzt ihr Verlobter. Seit vier Monaten.
"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht hier bin", sagt die blonde Frau und zieht eine Zigarettenschachtel aus der Leoprint-Handtasche. Wie jeden Abend steht ihr zukünftiger Mann schon am Fenster und wartet auf sie. "Wie geht es dem Kleinen?", ruft er und meint ihren dreijährigen Sohn. Sie formt mit den Händen einen Trichter: "Gut. Er vermisst dich und fragt, wann du aus dem Urlaub zurück bist." Nach ein paar Minuten verabschiedet sich das Paar, sie haucht einen Kuss auf ihre flache Hand und wirft ihn über die Mauer. "Ich liebe dich", sagt er. "Halt durch", sagt sie. Dann geht das Licht in der Zelle aus.
Yvonne ist eine von vielen, die täglich über die Mauer mit Inhaftierten sprechen. Das ist verboten, daher nennt sie nicht ihren wahren Namen. Rund um das Gefängnis erkennt man die Spuren der Rufer. Am Holstenglacis, neben dem Messegelände, ist der Rasen stellenweise bis auf die Erde abgetreten. Auf der anderen Seite, in der Parkanlage Planten un Blomen, führen kleine Trampelpfade in die Botanik. Nirgendwo in Hamburg sind die Gegensätze von frei und gefangen so deutlich wie hier in der Neustadt.
Meist sind es Frauen, die hier ihre Männer, Freunde oder Söhne besuchen. Die Untersuchungshaftanstalt hat nach Auskunft der Justizbehörde Hamburg aktuell 380 Insassen, 357 davon sind männlich. Es ist ein Austausch, der schon seit langer Zeit zu beobachten ist. Neu ist heute aber, dass sich unter die besorgten Angehörigen immer häufiger Jugendliche mischen, für die das Ganze ein makabrer Freizeitspaß zu sein scheint. Nicht selten erfahren sie über soziale Netzwerke von Verhaftungen und fahren zum Innenstadtgefängnis, um Kontakt zu den Insassen aufzunehmen - auch wenn sie diese gar nicht wirklich kennen.
Auf der Straße hinter dem Gefängnis steht eine Gruppe von drei pubertierenden Mädchen und einem Jungen. Sie hängen heute nicht das erste Mal vor der Haftanstalt ab. "Das macht doch jeder", sagt die eine, die Lippenstift zum Kopftuch trägt. Ihr Facebook-Freund sitzt wegen Vergewaltigung. "Wir wollen den fertig machen", erklärt das Mädchen. "Kennt hier wer Pascal?", ruft einer ihrer Freunde den Häftlingen entgegen. "Der sitzt hier nicht. Probiert es auf der anderen Seite." "Was hat der gemacht?" "Vergewaltigung." "Dann sitzt der im Keller." "Warum sitzt du?" "Ich bin Kannibale. Hab wem den Arm abgebissen. Nicht schlecht, was?" Die Freunde gehen langsam weiter, kichernd.
"Kontaktaufnahme verboten. Ordnungswidrigkeit!" So steht es auf dicken Backsteinmauern. Aber das scheint hier kaum jemanden abzuhalten. Obwohl die Anstalt auf den Schildern mit einem Stapel Geldscheine darauf hinweist, dass ein Bußgeld droht. Und auch für die Häftlinge sind die Gespräche risikoreich, sie verstoßen gegen die Anstaltsordnung. Als Strafe droht ein vorübergehender Umzug in die Kellerräume.
"Mein Verlobter ist einmal runtergekommen, von neun Uhr abends bis vier Uhr morgens", erzählt Yvonne. Jeder kenne die Regeln, aber die Sehnsucht sei stärker. Während der Untersuchungshaft dürfen Insassen in der Regel alle 14 Tage Besuch empfangen. Viel zu wenig, findet Yvonne. Wenn die Männer verurteilt und in den geschlossenen Vollzug gebracht werden, sitzen viele hinter Mauern, über die hinweg sie sich nicht so einfach unterhalten können, wie hier in der Innenstadt. Wer dann kein Besuchsrecht hat, sieht seine Angehörigen für lange Zeit nicht mehr.
Yvonne dagegen freut sich auf die Verlegung. Dann dürfe sie ihren Verlobten offiziell einmal die Woche sehen. Und sie könnten im normalen Strafvollzug heiraten, sagt sie. Der Anwalt hat ihr das in Aussicht gestellt. Warum genau ihr Partner im Gefängnis einsitzt, will sie nicht sagen. Es habe mit seiner Ex-Freundin zu tun, sagt sie. Vermutlich werde er zu drei Jahren Haft verurteilt. "Aber wenn er geständig ist, wird er nach eineinhalb Jahren freigelassen."
Wann die Verhandlung stattfindet, hat Yvonnes Verlobtem im Gefängnis noch niemand gesagt. Er weiß es nur, weil sie es ihm über die Mauer hinweg zugerufen hat, nachdem sie das Datum vom Anwalt erfuhr. Normalerweise sprechen die beiden aber über andere Dinge. Sie erzählen sich, wie sehr sie sich vermissen. Dass sie sich lieben. Die anderen Häftlinge und Mauerruferinnen hören dabei zu. Daran hat sich Yvonne gewöhnt. Sie sagt: "Die anderen haben Scheiße gebaut, er hat Scheiße gebaut." Manchmal, wenn jemand einen Witz über die Mauer brülle, dann lachten die Frauen und Männer sogar gemeinsam.
Yvonne geht die Treppe zum Ausgang von Planten un Blomen hinauf. Es ist jetzt dunkel. Sie läuft am Gericht vorbei, biegt rechts ab und steuert auf den Besuchereingang der Untersuchungshaftanstalt zu. Sie wirft einen Brief ein, wie jeden Tag. Heute steckt darin ein selbstgemaltes Bild von ihrem Sohn. Noch zwei Wochen, dann ist Schluss mit der Ungewissheit. Hoffentlich.
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