Lena Frommeyer

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St. Pauli: Rent a Nachwuchsdesigner

Benedikt Schich, Maria Weis, Charlotte Dieckmann und Steffen Albrecht (v. l.) von der Öffentlichen Gestaltungsberatung. © Lena Frommeyer

Eingerahmtes Graffiti, Gartenlaube aus Paletten. Auf St. Pauli helfen Studenten Anwohnern kostenlos, ihre Umgebung zu gestalten. Ein Tausch, der beiden Seiten nutzt.


Von: Lena Frommeyer


Wie schützt man eine Fassade im Hinterhof vor Graffiti-Schmierereien? So lautet die Aufgabe für die drei Designstudenten, die im Halbkreis vor einem Laptop sitzen. Benedikt Schich, 25 Jahre alt, klickt sich durch eine Bildergalerie mit ersten Entwürfen. "Wir könnten die Kreativität lenken und Umrisse von Bilderrahmen auf die Wand bringen, die von Anwohnern ausgemalt werden", schlägt er vor. "Oder man verändert das Garagendach, auf dem man beim Sprühen steht, damit die Kids nicht mehr draufklettern können", sagt Maria Weis, 20. "Oder man macht aus dem Innenhof ein Open-Air-Kino und gestaltet die Fassade als Leinwand", sagt Steffen Albrecht, 31.

Benedikt Schich, Maria Weis und Steffen Albrecht sind Teammitglieder der Öffentlichen Gestaltungsberatung. Die Studenten der Hochschule für bildende Künste (HfbK) versammeln sich auf St. Pauli, um Anwohnern zu helfen. Kostenlos. Es ist das erste Treffen nach der Sommerpause. Von nun an ist jeden Mittwoch Sprechstunde. Ihr Versammlungsort: ein helles Erdgeschossbüro in einem Raum des Bürgervereins GWA St. Pauli. Durch die große Fensterfront sieht man Menschen über den Hein-Köllisch-Platz laufen: einen Mann mit Plastiktüte, eine Familie mit zwei Kinderwagen, eine Frau mit Pudel - für sie alle gilt das Angebot der Jungdesigner.

"Wir wollen keine Jobs wegnehmen, sondern den Leuten Zugang zu gutem Design verschaffen, denen das sonst nicht möglich ist", sagt Diplom-Designerin Charlotte Dieckmann. Die 26-Jährige ist eine der Organisatorinnen des Projekts. Gemeinsam mit ihren Mitstreitern geht sie in dem GWA-Büro Anfragen durch. Oben auf der Liste: ein Pinkelproblem. Ein Grünstreifen neben einem Bolzplatz wird ständig als Pissoir missbraucht. Auch aus einem anderen Stadtteil wird um Hilfe gebeten: Der Regisseur Justus Schwerdtfeger sucht Unterstützung für ein Off-Theater-Projekt in Billstedt. Das Arbeitsprinzip der Studenten ist ganz einfach: Wem einer der Aufträge gefällt, der tüftelt nach Lösungen, vereinbart einen Ortstermin, zeichnet Skizzen oder entwirft 3-D-Modelle.

"Es muss nicht immer abgerissen und alles neu gemacht werden, man kann auch mit Bestand arbeiten", sagt Steffen Albrecht. Ein Ansatz, den auf St. Pauli bekanntlich nicht alle verfolgen: steigende Mieten, Verdrängung und Neubauten sind hier prägende Phänomene. Die Designstudenten wollen den Anwohnern helfen, selbst über ihre Umgebung zu bestimmen. Das, was ihnen baulich vor die Nase gesetzt werde, lasse sich oft schon mit wenig Mühe besser nutzen, so ihre Überzeugung.

Gegründet hat das Projekt Jesko Fezer, ein Professor für Experimentelles Design, gemeinsam mit der GWA St. Pauli. Das erste, was seine Studenten 2011 entwarfen, war ein Begegnungsraum im Niebuhr-Hochhaus. Sie gestalteten den schmalen Hausflur zu einer temporären Bar um, mit Stehtischen und einer Theke. In drei Jahren wurden seither 30 Projekte bearbeitet. Der organisatorische Aufwand ist groß - pro Semester sind rund 20 Studenten beteiligt.

Um eine Sprechstunde auf St. Pauli anbieten zu können, bekommt die Gestaltungsberatung seit diesem Jahr 85.000 Euro aus dem Elbkulturfond der Kulturbehörde. Im Juli hat sie das Büro am Hein-Köllisch-Platz eingeweiht. Und es wurden zwei halbe Stellen geschaffen - die von Charlotte Dieckmann und Fynn-Morten Heyer. Beide gestalteten schon vor drei Jahren den Treffpunkt im Niebuhr-Hochhaus mit um.

Von dem Projekt profitieren nicht nur die Anwohner, sondern auch die Nachwuchsdesigner: Zum einen können sie sich die Projekte für ihr Designstudium anrechnen lassen. Zum anderen arbeiten sie an reellen Aufträgen. "Ich finde es interessant, direkt zu sehen, welche Probleme die Leute in ihrem Alltag haben", sagt Maria Weis. Das mache sie sensibler für spätere, vermutlich überwiegend theoretische Arbeiten.

Wie so ein Alltagsproblem aussehen kann, dafür liefert Charlotte Dieckmann ein Beispiel: Sie erzählt von einer St. Paulianerin, die in ihrer winzigen Wohnung mehr Yoga machen wollte, dafür aber auf ihren massiven Holztisch hätte verzichten müssen. "Wir schlugen vor, zwei Beine zu kürzen und darunter Rollen anzubringen, damit sie den Tisch allein zur Seite schieben kann", sagt die Designerin.

Eine andere Geschichte: Eine Frau bat um Hilfe beim Bau einer Laube im Kleingartenverein am Holstenkamp. Das Problem: Das Häuschen musste möglichst einfach abbaubar sein, da die Siedlung in acht Jahren auf den Deckel der A 7 umziehen soll. Die Studenten entwickelten mit der Hilfe suchenden Frau eine Gartenlaube aus 80 Europaletten. Die Anleitung dazu stellten sie auf ihre Homepage.

Den Menschen dabei helfen, ihre Umgebung originell zu gestalten — dass das nicht nur auf St. Pauli funktioniert, hat das HfbK-Team um Professor Jesko Fezer schon in anderen Städten erlebt: Zweimal reiste es ins Ausland. In Belgrad halfen die Jungdesigner einer Roma-Familie, die durch einen Brand alle Möbel in ihrer Wohnbaracke verloren hatte. Sie entwarfen und bauten für sie Stühle, ein Schlafsofa für drei Personen, einen Schreibtisch und ein Sideboard für den Familiencomputer.

In Istanbul nahm die Gruppe an der Design Biennale teil. Es ging dort um die Frage, wie man auf gegebene Zustände spontan gestalterisch reagiert. Die Hamburger Studenten organisierten auf einer Brachfläche ein Guerilla-Sportfest mit Fußballplatz und Backgammon-Spiel aus alten Flaschen. In einer Zeit, in der sich der Konflikt rund um den Gezi-Park anbahnte, war das auch ein politisches Signal.

Auch zu Hause in Hamburg unterstützt das Team der Gestaltungsberatung stadtpolitische Bewegungen, die sich gegen Gentrifizierung aussprechen. Für die Initiative gegen den Abriss der Esso-Häuser entwarf das Team beispielsweise einen Info-Flyer. Mittlerweile sind die Esso-Häuser bereits seit etwa drei Monaten verschwunden. Dort, wo sie standen, ist eine Baustelle. Gut 500 entfernt von dem Büro, in dem sich die Studenten treffen. Ein Anwohner mit einer neuen Anfrage ist heute, bei dieser ersten Sprechstunde nach der Sommerpause, noch nicht erschienen. Sorgen, dass sie nicht genug zu tun haben könnten, machen sich die Studenten deshalb nicht. 


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