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Großes Theater mit kleinen Helden

Kinder spielen Szenen aus der Ilias und der Odyssee vor der Antikensammlung am Königsplatz. Die Aufführung ist der Abschluss einer Projektwoche zum Thema griechische Mythologie


Hektor!" Achilleus steht vor den Stufen Trojas. Seine Rüstung blitzt golden im Licht der Sonne. "Hektor!", brüllt er wieder und steigt mit erhobenem Schwert zwei Stufen hinauf. Ein drittes Mal ruft er den Namen seines Feindes, des Bruders des Paris, des stärksten Trojaners: "Hektor!" Hektor erscheint, in silberner Rüstung. Todesmutig stellt er sich Achilleus, dem unbesiegbaren Griechen, und ein erbitterter Zweikampf bricht aus. Held gegen Held, einer größer, stärker, mächtiger als der andere. Dann sinkt Hektor vor Achilleus zu Boden, tot.

Eine halbe Stunde später sitzt Achilleus im Vorraum der Antikensammlungen am Königsplatz und wackelt mit den Füßen. "Achilleus ist mein großer Lieblingsheld: Er ist schnell, stark, ausdauernd, manchmal auch nett und fast unverwundbar", sagt er, der eigentlich Simon Hoffmann heißt und 12 Jahre alt ist. Aber nur fast unverwundbar, betont die neunjährige Athena, immerhin Göttin der Weisheit. Im echten Leben heißt sie Felicitas Freudenstein. Wenn es um Götter geht, kennt sich das strohblonde Mädchen besonders gut aus: "Sie erzählt mir ständig Dinge, die ich noch nicht weiß", sagt Simon. Felicitas grinst verschmitzt: "Athena war sehr schlau. Ihr Kopf hat die Muskeln der anderen besiegt. So geht mir das auch mal", sagt sie und zuckt mit ihren zarten Schultern.

Die Aufführung von Szenen aus der Ilias und der Odyssee am vergangenen Freitagnachmittag war der Abschluss einer Projektwoche, veranstaltet von Antikensammlungen, Glyptothek und dem Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke in Kooperation mit dem Museumspädagogischen Zentrum München (MPZ), während der sich die Kinder mit der griechischen Mythologie auseinandersetzten. Sechs Stunden am Tag tauchten sie in die fremde Welt ein, hörten neue und bekannte Heldensagen über Achilleus. Die Geschichten um Odysseus erkannten sie bei der Kinderführung auf den Bildern der griechischen Vasen wieder. Dann formten sie mit Ton und Gips, bastelten Kostüme und übten ihre Rollen als Hera, Hermes und Aphrodite. Angefangen hat es mit dem "Guten Morgen!"- Programm im Disney-Channel, erzählt Felicitas Freudenstein. Da lief Herkules, der Zeichentrickfilm. "Mama, hab' ich da gesagt. Kann ich noch mehr von den griechischen Göttern hören?" In ihrer Schule sagen viele, Felicitas Freudenstein sei verrückt. Stimmt gar nicht, antwortet sie dann.

Als die Neunjährige am Freitag zusammen mit etwa 50 anderen kleinen Fans der griechischen Mythologie Szenen aus Ilias und Odyssee spielt, ist man als Zuschauer erst einmal beeindruckt: Da stehen sie, Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren, in roten, blauen, grünen Gewändern mit goldenen Kronen und federbehafteten Masken, reden von Musen, Göttern, Ehre und Weisheit und sind stolz, ihre Helden spielen zu dürfen. Das Skript für die Aufführung stammt von Marco Rossini, 24, Archäologiestudent im Masterstudium. Er hat mit den Kindern geübt, sich überraschen lassen: "Am Tag vor der Aufführung haben wir das erste Mal geprobt. Insgesamt gab es nur drei Proben. Und dann so eine Aufführung - ich bin begeistert." Zehn Minuten, nachdem er die Skripte ausgeteilt hatte, sagten die Kinder: "Marco, wir können den Text. Wann proben wir jetzt?" Die Kinder seien interessierter, als man sich das vorstellt, sagt der gebürtige Italiener. Die meisten wussten schon alles über Troja und Odysseus - viel erklären musste er nicht. Marco Rossini und neun weitere Studenten der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) belegten mit der Projektwoche eine museumspädagogische Übung, die zu ihrem Studium gehört. Unterstützt wurden sie von drei Hauptamtlichen des Museums, darunter Konservatorin Astrid Fendt. Die Studenten seien noch "viel näher dran" an den Kindern, "ein bisschen wie große Geschwister", meint sie.

Auf den Treppen der Antikensammlung ist Troja mittlerweile besiegt. Odysseus befindet sich mit seinen Gefährten auf seiner langen Irrfahrt in die Heimat. "Ich bin Odysseus, König von Ithaka!", ruft Jakob Biber, in weißem Gewand, der Zauberin Kirke zu und befiehlt ihr, die Gefährten ziehen zu lassen. Seine sieben Jahre und 1,20 Meter Körpergröße überspielt er mit geradem Rücken und überzeugender Stimme, den Blick fest ins Publikum gerichtet. Vor meterhohen korinthischen Säulen, bei griechischen Temperaturen und mit stimmungsvoller Hintergrundmusik aus dem Lautsprecher ist die Atmosphäre in diesem Moment recht antik.

Die Kinder identifizieren sich mit ihren Rollen, sagt Astrid Fendt. In dieser Woche gab es keinen Superman, keine Bibi und keine Tina, kein Spider- und kein Iron Man: "Selbst beim Fußballspielen in der Mittagspause stand Hermes auf dem Feld und rief: 'Achilleus, spiel ab'", erzählt Fendt. Woher kommt die Faszination der Kinder für die griechische Mythologie? "Das waren noch richtige Helden", sagt Achilleus-Darsteller Simon Hoffmann. "Die haben lange durchgehalten, um was zu erreichen, und ihr Leben aufs Spiel gesetzt", ergänzt Rafael Wenke (12), der den Hermes spielt. Er hat alle "Percy Jackson"-Bücher gelesen und ist auch von der Mode und der Fortschrittlichkeit der Griechen fasziniert. Rafael Wenke macht, wie viele andere Kinder, schon zum dritten Mal bei der Projektwoche mit. Er und einige andere Kinder besuchen mittlerweile auch ein humanistisches Gymnasium, an dem Latein und Altgriechisch unterrichtet wird - ideal für die Projektwoche.

Achilleus, Athena und Hermes haben ihre Kostüme ausgezogen. Die Gewänder und Schwerter fest im Arm, nehmen sie ein Stück ihrer Helden mit nach Hause. "Tschüss Marco", ruft eines der Kinder noch über die Schulter. Manch einer spielt jetzt schon mit dem Gedanken, mal Archäologie zu studieren - so wie Marco. Der wusste, sagen sie, ja auch schon mit neun Jahren, dass er genau das mal machen will.

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