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Wikipedia von Ramersdorf


Das erste Kino, das in Ramersdorf eröffnete, stand in unmittelbarer Nähe zur Kirche Maria Ramersdorf und wurde deswegen auf den Namen "Marienlichtspiel" getauft. Schon das war dem damaligen Pfarrer Kifinger ein Dorn im Auge. Dass das Lichtspielhaus dann auch noch den Skandalfilm "Die Sünderin" mit der nackten Hildegard Knef zeigte, setzte dem Ganzen die Krone auf. Kurz darauf brannte es im "Marienlichtspiel". Pfarrer Kifinger nutzte den Moment und schlug vor, das Kino im Zuge des Neubaus doch umzubenennen. Aus dem "Marienlichtspiel" wurde das "Metro-Kino".

"Der hatte wohl einen guten Draht nach oben", kommentiert Renate Wirthmann zum Ende dieser Anekdote, die ihr gerade eingefallen ist, als sie das alte Gebäude passiert. Schon lange flimmern dort keine Filme mehr auf der Leinwand. Die Rentnerin läuft weiter, überquert eine Kreuzung und bleibt vor einem vierstöckigen Altbau mit Rundbogenfenstern und kleinen Dachgauben stehen, der Führichschule. Die Schule wird dieses Jahr 100 Jahre alt, der Verein "Arbeitskreis Stadtteilgeschichte" feiert das Jubiläum mit einer Ausstellung rund um die Geschichte der alten Lehranstalt - und feiert damit zugleich seinen eigenen Abschied aus der Öffentlichkeit.

Seit 1997 ist Renate Wirthmann Vorsitzende des Vereins, "weil sich sonst keiner bereit erklärt hat". Der Arbeitskreis widmet sich seit mehr als 25 Jahren der Geschichte des Stadtteils. Entstanden aus einer kleinen Gruppe Aktiver, die anlässlich der Feier "125 Jahre Ramersdorf bei München" im Jahr 1989 ein bisschen was zusammengetragen hatte, entwickelte sich ein Verein mit zwischenzeitlich 30 Mitgliedern. Über die Jahre sammelten sie unter anderem etwa 4000 Fotos, außerdem Beichtzettel - ehemals Nachweise der abgelegten Beichte - sowie Briefe aus Kriegszeiten, Postkarten, kleine Liebesbriefe, Destillationsapparate einer ehemaligen Parfümerie, alte Tabakdosen ...

Ihre Sammlung - die "vielen, kleinen Schätze" - behielten sie nicht für sich: Jedes Jahr organisierte der Arbeitskreis Ausstellungen mit wechselnden thematischen Schwerpunkten; über den Karl-Preis-Platz und seinen Namensgeber, über die Pfarreien, über die Wallfahrt, über all die Firmen, die es in Ramersdorf einmal gab. Und Renate Wirthmann ist der Motor des Vereins, sagen manche. Sie zuckt dann nur mit den Schultern. "Ich bin halt ein bissl ein Organisator." Die gebürtige Perlacherin kam 1942 zur Welt. In der Adam-Berg-Straße in Ramersdorf haben ihre Eltern dann ein Haus gebaut, sie zogen um, als sie ein kleines Kind war. In dem Haus lebt sie bis heute. Kriminalbeamtin wollte die junge Wirthmann einmal werden, weil sie sich so gut Gesichter merken konnte, aber ihre Mutter hat nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Am Ende ist sie als Angestellte bei einer Bank gelandet - "war auch nett".

Auf ihrem Streifzug durch Ramersdorf bleiben die wachen, hellblauen Augen der Rentnerin an immer wieder anderen Orten hängen. Hier fuhr 1926 die erste Straßenbahn, dort war einmal jenes Geschäft, das erste Schulhaus kam 1918, erst zwischen 1967 und 1968 wurden die Straßen in Ramersdorf asphaltiert - "das Wikipedia von Ramersdorf", so wird sie genannt. Das Wissen sei "halt verankert im Hirnkastl", sagt sie. Das lese man sich so an, mit der Zeit.

Die Zeit, sie rückt dem Arbeitskreis zu Leibe. Mit ihren 76 Jahren ist Renate Wirthmann das zweitjüngste Mitglied. "Viele leben auch nicht mehr." Nachwuchs gibt es keinen. Die Leute erzählen alle gern, finden die Arbeit des Vereins toll, aber selbst mitmachen? Dafür fehlt dann die Bindung zum Stadtteil, zu schnell ist man doch wieder weggezogen und für Vereinsarbeit hat heute sowieso keiner mehr wirklich Zeit. Renate Wirthmann versteht das, "die Welt ist eben anders geworden".

Die Welt ist anders geworden, aber den Arbeitskreis hat das nicht sehr beeindruckt. Das fällt vor allem im Kleinen auf: Eine E-Mail-Adresse haben die wenigsten. Gibt es etwas mitzuteilen, ruft Renate Wirthmann an, oder man trifft sich. Einladungen verschickt sie an manche immer noch mit der Post. Für die Ausstellungen werden Fotos auf Plakate geklebt, daneben steht handgeschriebener Text.

Bevor sich der Verein Ende des Jahres auflöst, wird all das gesammelte Material aber digitalisiert. Der Festring Perlach, ein befreundeter Heimatverein, hilft dem Arbeitskreis dabei. Die letzte Ausstellung über die Führichschule wird dadurch "richtig modern", so Wirthmann, mit ausgedruckten Bildern und Texten.

Viel Herzblut habe sie in den Arbeitskreis gesteckt. Dass es damit bald vorbei sein wird, "das geht mir schon ab", sagt die 76-Jährige. In ein Loch wird sie deswegen aber nicht fallen. Das Erzählcafé führt sie weiter, bei dem sich Ramersdorfer einmal im Monat treffen und bei Kaffee und Kuchen Geschichten von früher hören. Alles andere "ist eben, wie es ist", sagt sie und schmiedet im gleichen Moment schon Pläne für das nächste Projekt. Und dann gibt es ja noch den eigenen Garten. Und den Ehemann. "Und vielleicht fällt mir dann schon wieder was ganz anderes ein."

Die Ausstellung zum 100-jährigen Bestehen der Führichschule können Besucher bis zum 26. Oktober im SPD-Bürgerbüro an der Melusinenstraße 18 besichtigen. Der Arbeitskreis Stadtteilgeschichte zeigt unter anderem Briefe, Zeugnisse und Klassenfotos, die vermitteln, wie sich das Schulleben in dieser Zeit verändert hat. Das Büro ist montags bis freitags von 9.00 bis 12.30 Uhr und montags bis donnerstags von 13.30 bis 17.00 Uhr geöffnet.

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