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Märchen sind nicht nur für Kinder da

Wolfgang Meyer, hauptberuflich Polizist, kommt einmal im Monat in eine Tagesstätte für Demenzkranke. Dort erzählt er seine Geschichten nicht nur, er spielt sie eindrucksvoll vor - und hat in seinem Koffer auch mal Maiskolben und Karotten dabei


Wolfgang Meyer hat einen Märchenkoffer. Es ist ein großer, schwerer Lederkoffer mit Schnallen, einer von der alten Sorte. Der 77-jährige demenzkranke Herr M. zeigt mit seinem Gehstock auf das Mitbringsel und ruft: "Da sind die Märchen drin!" In der Malteser-Tagesstätte "MalTa" an der Michaeliburgstraße ist es hell, die Sonne scheint durch die Fenster. Drinnen hat es sich eine kleine Gruppe älterer Menschen in der Sitzecke bequem gemacht. Es ist Märchenstunde. Meyer öffnet seinen Koffer. Die Tagesstätte ist eine Betreuungseinrichtung für Menschen in der Frühphase der Demenz. An diesem Tag sind nur drei Gäste - wie die Demenzerkrankten dort genannt werden - zu Besuch. Aber das macht nichts, Meyer freut sich über jeden Zuhörer. Seit einem Jahr verbringt er einen Nachmittag im Monat in der Tagesstätte, um ehrenamtlich Märchen vorzutragen - auf seine eigene Weise.

Aus seinem Koffer zaubert er zuerst einen Maiskolben, frisch vom Feld, wie er sagt, und reicht ihn durch die Runde. Auch Karotten, Gerste und Weizen hat er mitgebracht - alles Dinge, die mit seinen heutigen Märchen zu tun haben. Jeder darf in ein Stück Karotte beißen, darf fühlen, wie die Weizenkörner durch die Finger rinnen, und wie sich das Rascheln der Maisblätter anhört. Meyer erzählt nicht einfach nur, er spricht alle Sinne seines Publikums an.


Wer dem 59-Jährigen beim Märchenerzählen zuhört, dem fällt es schwer zu glauben, dass er je etwas anderes gemacht hat. So groß ist die Natürlichkeit, mit der dieser hochgewachsene Mann mit grauem Bart und tiefer Stimme die Geschichte erzählt, wie der Bauer einst den Teufel überlistete. Meyer hebt die Stimme und senkt sie wieder, er redet mal schnell und mal langsam, er wirft die Hände in die Luft, er hebt den Zeigefinger und schaut jedem seiner Zuhörer nacheinander tief in die Augen. Er spricht frei, vor ihm liegt kein Märchenbuch, nicht einmal ein Spickzettel mit Stichworten. Pfleger und Ehrenamtliche der Tagesstätte lauschen genauso gespannt wie die drei Gäste. Neun Augen- und Ohrenpaare verfolgen alle seine Bewegungen und jedes seiner Worte.

Er stehe gerne auf der Bühne, sagt Meyer. Hauptberuflich ist er Polizeibeamter. Uniformiert kann man sich den Märchenerzähler gar nicht recht vorstellen, aber er sei auch immer mehr der "sozial denkende Mensch" gewesen und versteht sich hauptsächlich als Freund und Helfer: "Sondereinsatzkommando wäre jetzt nicht so meins", sagt er und lacht. Extremismusprävention und Konfliktberatung, vor allem in Schulen und in Workshops, sind seine Spezialgebiete.

Der Koffer kann schon einmal mit Mais gefüllt sein.

(Foto: Catherina Hess)

Die Motivation, sich "gesellschaftlich einzubringen", reicht über den Beruf hinaus. Der Polizist ist auch ausgebildeter Demenzbegleiter, und Anfang des kommenden Jahres schließt er seine Ausbildung zum sogenannten Märchenpädagogen bei der Münchner Erzählschule "Die Sprechwerker" ab. Schon seinen vier Kindern habe er gerne und oft Märchen erzählt, oft selbst erfundene, zum Beispiel von Freddi, der U-Bahn-Maus. Heute sind die Kinder groß, und Meyer schreitet mit großen Schritten in Richtung Pensionierung, also möchte er sich "umorientieren". Als Märchenerzähler scheint er seine Bestimmung gefunden zu haben. Senioren seien ihm persönlich als Publikum lieber als Kinder: "Die haben so viel zu erzählen. Das ist auch für mich spannend."

Während seiner Märchenstunde reagieren die Demenzkranken ganz unterschiedlich: Die einen rufen dazwischen, was ihnen gerade einfällt, andere versinken tief und still in der Geschichte. Für den Erzähler ist es deshalb wichtig, möglichst "alle in der Geschichte drin zu halten", deswegen auch der intensive Augenkontakt.

Die Märchen helfen Demenzkranken offenbar dabei, zur Ruhe zu kommen. Eine Studie der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (ASH) wertete zwischen 2012 und 2015 mehr als 100 Märchenstunden in Pflegeeinrichtungen mittels Videoaufzeichnungen und Gesprächen aus. Das Ergebnis, zu dem die Forscher kamen: Zwei Drittel aller Teilnehmer haben die Veranstaltung "erkennbar als positiv" erlebt. Elke Rieger, die Einrichtungsleiterin von "MalTa", bestätigt diese Beobachtungen. Wenn sie erzähle, dass Wolfgang Meyer wieder kommt, freuten sich ihre Gäste jedes Mal - auch wenn sich nicht immer alle noch an ihn erinnern können.

Ein alter Koffer gehört zur Märchenstunde von Wolfgang Meyer.

(Foto: Catherina Hess)

Ein großer Fan des Märchenerzählers ist Frau B. Seit neun Monaten kommt sie wöchentlich in die Tagesbetreuung an der Michaeliburgstraße. Beim letzten Mal, als es um Heimatgeschichten ging, brachten sie die intensiven Erinnerungen an ihr Zuhause zum Weinen, erzählt Meyer. Heute fasst die 83-Jährige den Märchenerzähler schon beim gemeinsamen Mittagessen leicht am Arm und fragt unsicher: "Bin ich noch da, wenn Sie heute singen?" Als der Märchenerzähler dann am Nachmittag seine Geschichten beendet und die Gitarre auspackt, lächelt die stille alte Dame. Der Ehrenamtliche verteilt die Texte und singt mit den Demenzkranken Lieder zum Herbstbeginn und Erntedank.

So ein Nachmittag gebe ihm sehr viel zurück, sagt Wolfgang Meyer. Er gehe immer mit einem guten Gefühl nach Hause. Der Perspektivenwechsel tut ihm gut: "Ich bin durch meinen Beruf ständig mit menschlichen Tiefen, Nöten und Leid konfrontiert. Da macht es einfach Spaß, auch mal etwas Schönes zu erzählen."

Die Malteser-Tagesstätte "MalTa" hat noch wenige freie Plätze. Die Betreuung von 9 bis 15 Uhr kostet täglich 69 Euro inklusive Verpflegung. Weitere Informationen bei Elke Rieger, per E-Mail an elke.rieger@malteser.org, unter Telefon 40 26 84 61 oder unter www.malteser-muenchen-demenz.de.
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