Als Diana Hagens* sechs Jahre alte war, schwoll ihr Fuß so stark an, dass sie kurz vor der Amputation stand. Seit ihrer Kindheit leidet die 33-Jährige unter einer schweren rheumatischen Erkrankung. Vor fünf Jahren ein weiterer Schicksalsschlag: Bei Hagens wurde Schilddrüsenkrebs mit Metastasen in den Lymphknoten diagnostiziert. Sie musste sich sowohl die Schilddrüse als auch die Lymphknoten im Hals-Kopf-Bereich entfernen lassen. Dann wurden die rheumatischen Beschwerden schlimmer.
Hagens durchlief verschiedene Schmerztherapien. Die Nebenwirkungen der Opioide und Schmerzmittel habe sie schließlich nicht mehr ausgehalten, erzählt Hagens: „Das Ibuprofen hat meine Magenschleimhaut zerstört.“ Nach intensiver Recherche gelangte sie zu der Überzeugung, dass die Verschreibung von medizinischem Cannabis ihre letzte Hoffnung sei. Also begab sie sich bei den Ärzten von „Algea Care“ – einem Telemedizin-Anbieter, der auf Cannabistherapien spezialisiert ist – in Behandlung.
„Algea Care“ wurde im Juni vergangenen Jahres vom Radiologen Dr. Julian Wichmann und der Managerin Anna-Sophia Kouparanis gegründet. Das Unternehmen hat sich zum Ziel gesetzt, den Schmerzpatienten, die sich einer Cannabistherapie unterziehen wollen, nach eingehender Prüfung geeignete Präparate zu verschreiben; darunter auch Mittel mit dem psychoaktiven Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC). Im September eröffneten Wichmann und Kouparanis zunächst ein Cannabistherapiezentrum in Frankfurt am Main. Aufgrund der hohen Nachfrage folgte rasch die Gründung weiterer Zentren in Köln, Hamburg, München, Nürnberg und Stuttgart. Auch in der Güntzelstraße 54 in Wilmersdorf wurde ein Standort eröffnet.
Mehr als 1000 Patienten werden bei der Firma mit Cannabis behandelt
Nach eigenen Angaben betreut die Firma deutschlandweit mehr als 1000 Patienten monatlich. Um die Versorgung kümmern sich über 40 Mitarbeiter und 20 Ärzte, darunter Allgemeinmediziner, Psychiater, Anästhesisten und Orthopäden. Wichmann befasste sich bereits während seiner sechs Jahre andauernden Facharztausbildung mit verschiedenen Formen der Schmerztherapie. Kouparanis arbeitete nach dem Abschluss ihrer beiden Management-Master mehrere Jahre für Unternehmen, die Cannabisprodukte vertreiben.
Die Frage, ob aufgrund ihrer vorigen Tätigkeiten ein Interessenkonflikt mit ihrer neuen Position bei „Algea Care“ bestehe, verneint Kouparanis. Sie sei in der Firma nicht in das operative Geschäft eingebunden. Zudem verschreibe das Unternehmen lediglich Rezepte, die Cannabispräparate beziehen die Patienten aus Apotheken. Schließlich seien die behandelnden Ärzte nicht bei „Algea Care“ angestellt, betont Kouparanis. Sie könnten selbst entscheiden, welche Medikamente sie verschrieben.
Verschreibung von THC in Deutschland seit 2017 legal
Wer an einer Cannabistherapie bei dem Unternehmen interessiert ist, muss sich über ein Online-Formular bewerben. Das Erstgespräch mit den Ärzten findet in einer der Praxen von „Algea Care“ statt, alle weiteren Beratungen per Videochat oder Telefon. Gründer Wichmann ist davon überzeugt, dass er seinen Patienten mit seinem Geschäftsmodell eine einzigartige Leistung bietet. Diese verspürten oft einen „enormen Leidensdruck“, sagt er, träfen in Praxen jedoch auf „Unverständnis, wenn sie den Arzt dort um die Verschreibung von Cannabis bitten.“
Die Verschreibung von THC-Präparaten ist in Deutschland seit 2017 legal. Dabei muss jedoch das Betäubungsmittelgesetz beachtet werden. Für Ärzte ist die Behandlung mit einer besonderen Aufklärungspflicht verbunden. Tatsächlich sind die bürokratischen Hürden für eine Cannabisbehandlung in Deutschland hoch.
Zu wenig Studien erforschen die Wirkung von THC
Diese sei „vom Gesetzgeber als die Ultima Ratio“ anzusehen, erklärt Ole Eggert, Sprecher der Ärztekammer Berlin. Gesetzliche Krankenkassen bezahlen die Behandlung nur, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen müssen Patienten an einer schwerwiegenden Krankheit leiden. Zum anderen soll es nur dann zur Behandlung kommen, wenn keine anderen Therapien möglich sind. Schließlich müsse es auch eine „Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome“ geben, so Eggert.
Wenn Patienten bei den gesetzlichen Krankenkassen eine Cannabis-Behandlung beantragen wollen, müssen die Ärzte belegen, dass diese Therapieform im Einzelfall wirkt. Das sei „in gewisser Weise widersinnig“, sagt Eggert, da es kaum „hochwertige Studien“ darüber gebe, wie wirksam Cannabis tatsächlich sei.
Mit medizinischem Cannabis wurden 2020 in Europa 231 Millionen Euro umgesetzt
Auch die Kassenärztliche Vereinigung Berlin (KV) sieht bei Cannabistherapien eine Forschungslücke, wie ein Sprecher mitteilte. Deswegen führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) momentan bei allen Kassenpatienten, die mit Cannabis versorgt werden, eine Begleiterhebung durch. Die Daten sollen dafür verwendet werden, eine neue Richtlinie für Cannabisbehandlungen zu erarbeiten. Damit soll für Kassenpatienten ab 2022 mehr Rechtssicherheit geschaffen werden.
Eine bessere staatliche Regulierung ist allein deshalb wünschenswert, weil der Markt für medizinisches Cannabis europaweit wächst. Das ergibt sich aus einer Studie der Beratungsfirma „Prohibition Partners“, die Unternehmen unterstützt, die Geschäfte mit medizinischem Cannabis machen. In ihrem aktuellen „Europäischen Cannabis Report“ schätzt die Beraterfirma, dass auf dem Markt für medizinisches Cannabis im vergangenen Jahr insgesamt 231 Millionen Euro umgesetzt wurden. Sie rechnet damit, dass der Umsatz bis 2025 auf mehr als drei Milliarden Euro steigen könnte.
THC-Tropfen kosten in Apotheken 20 Euro pro Milliliter
Auch in Deutschland sind die Kosten für eine Behandlung mit medizinischem Cannabis hoch. Apotheken orientieren sich beim Verkauf von Cannabispräparaten am sogenannten Neuen Rezeptur-Formularium, einer Formelsammlung der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Für ein flüssiges Cannabispräparat empfiehlt das Formularium den Apothekern, 25 Milligramm THC pro Milliliter in die Flaschen zu mischen. Diese Mischung kostet 20 Euro pro Milliliter. Auch Cannabisblüten werden in Apotheken verkauft. Ihr THC-Gehalt ist meist wesentlich niedriger als die der flüssigen Mischungen.
Die Cannabistherapie kommt Schmerzpatientin Hagens teuer zu stehen. Für ein Beratungsgespräch berechnet „Algea Care“ im Schnitt 120 Euro. Und auch die Cannabisblüten, die Hagens in einem Verdampfer raucht, muss sie selbst bezahlen. Sie hat von den Ärzten zwar die Verschreibung für die Blüten bekommen, ihre Krankenkasse übernimmt jedoch bislang keine Kosten. Sie wolle mithilfe der Ärzte einen weiteren Antrag auf Kostenübernahme stellen, sagt sie. Dennoch sei sie generell mit der Behandlung zufrieden. Im Gegensatz zu Schmerzmitteln müsse sie Cannabis nicht mehr jeden Tag einnehmen, um ihre Schmerzen zu lindern, erzählt Hagens. Sie freut sich über die positiven Effekte: „Ich habe weniger Schmerzen, kann durchschlafen, am nächsten Tag aufstehen und normal arbeiten.“
* Name von der Redaktion geändert
Cannabinoide CBD und THC: Das sind die Wirkstoffe von Cannabis
- In der medizinischen Forschung wird die Wirkung von sogenannten Cannabinoiden erforscht. Cannabinoide sind Substanzen, die in Hanfpflanzen vorkommen und im menschlichen Nervensystem auf Cannabinoid-Rezeptoren einwirken. Es gibt mehr als 100 verschiedene Cannabinoide. Die beiden bekanntesten, die auch die stärkste Wirkung auf das Nervensystem haben, sind Canabidiol (CBD) und Delta-9-Tetrahydrogencannabinol (THC).
- CBD ruft keine Halluzinationen, Vergiftungen oder Rauschzustände hervor. CBD-Produkte können als frei verkäufliches Nahrungsergänzungsmittel unter anderem gegen Ängste, Schlafstörungen, Arthritis, Diabetes, Migräne oder bei chronischen Schmerzen eingesetzt werden. CBD gilt als wirksam gegen Krämpfe und entzüdungshemmend.
- THC hat eine berauschende Wirkung, die in manchen Fällen Psychosen auslösen kann. Seit 2017 ist die Verschreibung von Cannabis-Medikamenten legal, auch wenn diese THC beinhalten. Der Wirkstoff fällt dennoch unter das Betäubungsmittelgesetz. Für Ärzte ist die Behandlung mit einer besonderen Aufklärungspflicht verbunden. Eine Verschreibung ist bislang nur möglich, wenn Patienten unter schweren Krankheiten leiden und keine andere Therapieform in Betracht kommt.