Zwei Häuser an der Windscheidstraße 3 und 3A in Charlottenburg sollen abgerissen werden – obwohl noch 34 Mieter darin wohnen. Die Abteilung für Ordnungs- und Wirtschaftsangelegenheiten des Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf hat die Abrissgenehmigung erteilt. Sie liegt der Berliner Morgenpost vor. Vorder- und Hinterhaus sind sanierungsbedürftig und sollen einem Neubau Platz machen. Die Mieter wollen sich juristisch gegen den Abriss ihrer Wohnungen wehren. Die SPD fordert Milieuschutz und eine Änderung des Baurechts auf Bundesebene.
Andrea Franke* hat ihre Kündigung am 30. November 2020 erhalten. Seit fünf Jahren lebt sie in ihrer Zweizimmerwohnung im Hinterhaus. Bis Mai soll sie ausziehen. „Ich würde aber gerne weiter hier wohnen“, sagt Franke. „Ich fühle mich hier wohl und eine günstige Wohnung in Berlin zu finden ist schwer.“ Momentan bezahlt sie für 53 Quadratmeter insgesamt 457 Euro Nettokaltmiete.
Ihr Vermieter ist die DKW Gruppe, eine Immobilienfirma, die die Gebäude 2017 kaufte. Im Kündigungsschreiben erklärt die DKW, Abriss und Neubau stellten „die einzig wirtschaftlich vertretbare Möglichkeit der Verwertung“ dar. Die Gebäude seien in einem derart desolaten Zustand, dass sie auch bei „Zugrundelegung eines maximalen baulichen Aufwandes“ nicht mehr so saniert werden könnten, dass sie den „heutigen Anforderungen an den Wohnkomfort“ genügten. Mieterhöhungen könnten die Kosten, die durch die Sanierung entstünden, nicht ausgleichen, heißt es weiter.
Dass ihr Wohnhaus seit Jahren verfällt, weiß Franke aus eigener Erfahrung. Bereits kurz nach ihrem Einzug funktionierten mehrere Heizkörper in ihrer Wohnung nicht mehr. Unzählige E-Mails schrieb sie deswegen an die Hausverwaltung. Schließlich nahm sie sich einen Anwalt. „Immer wieder kamen Handwerker, die meine Heizkörper entlüftet haben. Das hat aber das Problem nicht gelöst“, sagt Franke.
Nach mehrmaliger Bitte seien Franke und zwei Handwerkern Anfang 2020 der Schlüssel zum Heizungskeller gegeben worden. Als sie ihn betraten, hätten die Installateure ihr erklärt, dass „mehrere Teile der Heizanlage dringend ausgetauscht werden müssten“, schreibt Franke in einer ihrer E-Mails an die Hausverwaltung. Dies sei bis heute nicht geschehen, sagt sie.
Der zunehmende Verfall der Gebäude ist offensichtlich, wie sich bei einem Besuch herausstellt: Die Fassade bröckelt, die Hausflure sind schmutzig. In die Wohnungen wurden keine Rauchmelder eingebaut. Viele Mieter zogen bereits aus – insgesamt 12 Wohnungen im Vorder- und Hinterhaus stehen leer, zum Teil schon seit Jahren. Die beiden Häuser haben viele Besitzerwechsel hinter sich, grundlegende Sanierungen hätten aber zu keiner Zeit stattgefunden, sagen Mieter, die seit Jahrzehnten dort wohnen.
Dabei gab es im Frühjahr 2019 noch ein Treffen der DKW mit den Mietern. Dort stellte die Immobilienfirma umfassende Sanierungspläne vor. Sie wurden nie realisiert. Das begründet die DKW auf Anfrage der Berliner Morgenpost damit, dass sie ein „umfangreiches Gutachten“ erstellen ließ, dass „die Unwirtschaftlichkeit der Sanierung bestätigt.“ Die Mieter seien „frühestmöglich über die Pläne der DKW zu dem Objekt informiert“ worden. Die Dokumentation der Mietergespräche belegten dies, so das Unternehmen. Diese Dokumente könne es aber „aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht offenlegen.“
Ina Kasten**, eine Nachbarin von Franke, schildert die Kommunikation mit ihrem Vermieter anders: Nach dem Treffen 2019 seien sie und ihre Nachbarn zunächst nicht von der DKW darüber informiert worden, dass die Firma von ihren Sanierungsplänen Abstand genommen hatte. Mietern wurde zu verschiedenen Zeitpunkten lediglich eine Abfindung geboten, falls sie ausziehen sollten. Über die Abrisspläne habe die SPD die Mieterschaft mit einem Aushang in den Hausfluren informiert. Erst im Herbst 2020 habe die DKW ein weiteres Treffen vorgeschlagen, so Kasten. Angesichts der Corona-Pandemie haben die Mieter jedoch abgelehnt – auch aus Rücksicht auf ältere Bewohner der Häuser.
Kasten und 11 weitere Mieter haben daraufhin Rechtsberatung in Anspruch genommen. Ein Treffen mit der DKW Gruppe habe schließlich im Dezember 2020 stattgefunden. Erst bei diesem Treffen habe die Firma ihr Abriss- und Neubauvorhaben offengelegt. Ende Dezember sei den Mietern, die keinen Rechtsbeistand hatten, die Kündigung ausgesprochen worden. Inzwischen wurde allen 18 Mietparteien gekündigt. Viele von Ihnen wollen sich juristisch gegen den Abriss zur Wehr setzen.
Die Abrissgenehmigung wurde im Oktober 2020 von der Abteilung Wirtschafts- und Ordnungsangelegenheiten des Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf ausgestellt und liegt der Berliner Morgenpost vor. In dem Schreiben wird die Genehmigung damit begründet, dass nach dem Abriss Ersatzwohnraum gebaut wird.
Das Zweckentfremdungsverbot greife in diesem Fall nicht, so Ordnungsstadtrat Arne Herz (CDU): „Das Ersatzwohnraumangebot übersteigt den Bestandswohnraum.“ Die DKW Gruppe will nach dem Abriss der 30 Wohnungen insgesamt 45 neue bauen. Er setze „schlicht landesrechtliche Vorschriften und Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts“ um, so Herz.
„Das Problem ist, dass das Baurecht Mieter nicht ausreichend schützt“, sagt Ülker Radziwill (SPD), Leiterin des Bauausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus. Im Baugesetzbuch fehlten Paragrafen, die den Abriss von Gebäuden, die noch bewohnt werden, explizit verbieten, so Radziwill.
Sie hatte sich im vergangenen Jahr mehrmals mit den Mietern der Windscheidstraße 30 getroffen. Nun werde sie sich dafür einsetzen, dass sanierbarer Wohnraum künftig nicht „einfach abgerissen werden kann“, sagt sie. Sie wolle prüfen, ob die Bauordnung des Landes Berlin entsprechend angepasst werden kann. „Baurecht ist jedoch vorrangig Bundesrecht und daher sind uns auf Landesebene Grenzen gesetzt“, sagt Radziwill.
Die Aufstellung eines Milieuschutzgebiets hätte den Mietern an der Windscheidstraße helfen können, sagt Wolfgang Tillinger, baupolitische Sprecher der SPD im Bezirk. „Das Bezirksamt hätte dann sein Vorkaufsrecht wahrnehmen, die Gebäude von der DKW Gruppe kaufen und sie sanieren können“, so Tillinger. Für das Gebiet rund um die Windscheidstraße fordern Mieter schon seit Monaten Milieuschutz.
Das Bezirksamt entschied sich zunächst dagegen. Die Anwohner haben laut Gutachten zu hohe Haushaltseinkommen, lautete die Begründung. Nachdem Mieter im Sommer gegen die Entscheidung protestierten, erklärte Baustadtrat Schruoffeneger (Grüne), den Milieuschutz für die Kieze Amtsgerichtsplatz und Schlossstraße erneut prüfen zu wollen. Mit Ergebnissen ist wohl im Herbst 2021 zu rechnen.
*Name von der Redaktion geändert
**Name von der Redaktion geändert
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