Explodierende Infektionszahlen, deprimierende Telefonate, fehlende Bildschirme: Einblicke in ein Berliner Gesundheitsamt.
Berlin. Fabian Fischbach sitzt am Schreibtisch und nimmt den Telefonhörer in die Hand. Um ihn herum stehen sechs Bundeswehrsoldaten in Uniform. Sie arbeiten erst seit zwei Tagen im Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Ihre Blicke sind auf Fischbach gerichtet. Schließlich soll der Gesundheitsaufseher ihnen zeigen, wie man Kontakt zu Corona-Infizierten aufnimmt und sie über Quarantäneregeln informiert. Fischbach will gerade eine Krankenschwester anrufen, die sich in einer Klinik mit Corona angesteckt hat. Er wählt die Nummer. Es folgt ein langes Rufzeichen. Die Krankenschwester nimmt nicht ab. „Hoffentlich geht sie nicht gerade einkaufen", sagt einer der Soldaten und nimmt einen Schluck aus seiner Cola-Flasche.
Wenn selbst Infizierte nicht ans Telefon gehen, wird klar, wie schwierig der Kampf des Gesundheitsamts gegen die Pandemie ist. Nicht nur der Kontakt zu den Bürgern bereitet in manchen Fällen Probleme. Eine Herausforderung ist auch die interne Organisation. Anfang 2020, als die Corona-Welle Deutschland erreichte, arbeiteten im Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf neun Fachkräfte in der Pandemiebekämpfung. Ende des Jahres sind es rund 150.
Tests durchführen, Krankenakten erstellen, Informationen über das Virus verbreiten - für all diese Aufgaben musste sich Gesundheitsstadtrat Detlef Wagner (CDU) Personal suchen. Dabei werden auch externe Mitarbeiter eingestellt, Studenten etwa oder eben Bundeswehrsoldaten. Sie alle müssen geschult werden - in der Recherche, im Umgang mit zum Teil Schwerkranken. Das Gesundheitsamt ist nun keine klassische Verwaltung mehr, sondern wird zu einem großen Projekt.
Dass das Amt bislang „keine Ahnung von Projektmanagement hat", gibt Wagner unumwunden zu. Sein Blick wirkt dabei eindringlich. Wagner sitzt im dritten Stock des Gesundheitsamts am Hohenzollerndamm, an einem der Arbeitsplätze für Mitarbeiter, die sich um die Datenerfassung von Infizierten kümmern. Um 14 Uhr sitzt in diesem einen Raum noch niemand, während in anderen schon gearbeitet wird. Einige fangen erst später am Nachmittag an.
Vor der Pandemie habe das Amt „wie ein Bienenstock" funktioniert, sagt Wagner: klare Arbeitsteilung, feste Hierarchien. Die Corona-Krise erfordere aber blitzschnelle Reaktionen und dynamische Strategien. Seine Hoffnung setzt Wagner jetzt in jemanden, der schon viele Projekte geleitet hat: Sascha Brauer. Brauer sitzt neben ihm am Schreibtisch und bespricht mit ihm die Infektionszahlen. Er leitet den Pandemie-Stab des Amts. Zuvor hatte er für verschiedene Unternehmen Führungskräfte ausgebildet.
Sein Arbeitstag fange bereits beim Frühstück um 6.30 Uhr an, sagt Brauer. Er liest die ersten Meldungen über die Zahl der Neuinfektionen. Eine seiner Aufgaben ist es, den Überblick über das Infektionsgeschehen im Bezirk zu behalten. Das sei aber gar nicht so leicht, sagt Brauer. Er stellt sein iPad gut sichtbar vorne auf den Schreibtisch. Darauf ist ein Stabdiagramm zu sehen. Es bildet die Infektionszahlen in Charlottenburg-Wilmersdorf ab. Das Diagramm zeigt eine konstant hohe Kurve.
„Wir haben am Tag im Durchschnitt circa 100 Neuinfektionen im Bezirk", erklärt Brauer, während er auf die Kurve zeigt. „Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Infizierte Kontakt mit drei Personen hat, sind wir am Tag schon bei 300 potenziell Infizierten." Die Kontaktverfolgung sei „einfach nicht mehr möglich", sagt Brauer und schaut dabei zu Wagner hinüber. Dieser nickt. Neuinfizierte können erst nach einigen Tagen angerufen werden. Wenn beim Gesundheitsamt eine Meldung über eine Neuinfektion eingeht, wird zuerst automatisch eine E-Mail mit Verhaltensregeln an den Betroffenen verschickt.
Natürlich versuche das Amt, jeden Infizierten anzurufen, wenn auch mit Verspätung, sagt Wagner. Auch mit Kontaktpersonen der Kategorie 1 versuche man, Kontakt aufzunehmen - also mit Menschen, die über längere Zeit engeren Kontakt zu Infizierten hatten. Die Kontaktaufnahme sei besonders wichtig bei Corona-Fällen in Schulen, Kitas und Pflegeheimen. Allerdings sei die Situation unübersichtlich.
Das wisse Wagner aus eigener Erfahrung. So habe es einen Corona-Fall in der Kita seiner Tochter gegeben. Seine Tochter war Kontaktperson der Kategorie 1. Hätte sie sich infiziert, hätte sie 14 Tage in Quarantäne gehen müssen. Das zuständige Gesundheitsamt rief Wagner aber erst vier Wochen nach dem Ausbruch an. Er hatte wochenlang nichts von dem Fall gewusst, seine Tochter deshalb nicht testen lassen. „Ich möchte nicht ausschließen, dass so etwas in unserem Bezirk auch schon in ein oder zwei Fällen vorgekommen ist", sagt er und macht dabei eine abschätzige Handbewegung.
Wie die telefonische Betreuung von Infizierten und besorgten Menschen funktioniert, zeigt Wagner in einem größeren Raum, zwei Türen weiter hinten am Gang. Dort sitzen Mitarbeiter des Bürgertelefons. Hier rufen Bürger an, wenn sie Fragen haben. Viele weitere Hotlines gibt es, etwa für die Erstkontaktaufnahme, Kitas und Schulen. Dafür sind andere Teams zuständig. Das Bürgertelefon bedienen gerade drei Mitarbeiter, zwei Frauen und ein Bundeswehrsoldat.
Sie sitzen an Tischen, die in U-Form aufgestellt wurden - in großem Abstand zueinander. Masken müssen sie nur tragen, wenn sie ihren Platz verlassen. Zwischen den Arbeitsplätzen wurden Plexiglasscheiben aufgestellt. Einige Plätze sind nicht besetzt. Feste Pausenregelungen gebe es nicht, sagt Wagner: „Wenn man gerade ein schwieriges Telefonat mit einem traurigen Menschen geführt hat, kann man jederzeit den Raum verlassen, um wieder den Kopf frei zu bekommen." Außerdem gebe es die Möglichkeit, sich für diese Gespräche in ein anderes, kleineres Zimmer gegenüber zurückzuziehen.
Die zwei Frauen und der Soldat halten im großen Raum die Stellung. Komplizierte Gespräche gibt es offenbar gerade nicht - nach einigen Minuten wird der Hörer aufgelegt und beim nächsten Anruf gleich wieder abgenommen. Alle sprechen mit ruhiger Stimme und bleiben möglichst sachlich. Vor den Mitarbeitern liegen kleine Stapel mit Papier. Es sind Fragebögen, auf denen sie die Ergebnisse der Gespräche festhalten. Computer gibt es nicht. Das sei Absicht, betont Wagner: „Ungelernte Mitarbeiter können handschriftlich besser Informationen aufnehmen."
In anderen Räumen arbeiten Beschäftigte mit kleinen Laptops. Bislang gibt es an vielen Arbeitsplätzen noch keine großen Bildschirme. Offenbar fehlt dem Gesundheitsamt auch die Technik, um mit der Pandemie Schritt zu halten. Erst an diesem Morgen habe er einige Bildschirme vom IT-Dienstleistungszentrum Berlin besorgen können, erzählt Brauer. Dabei klingt er etwas stolz auf seine Errungenschaft. Die Mitarbeiter des Bürgertelefons jedenfalls müssen die Fragebögen handschriftlich ausfüllen und zu Kollegen bringen, die Daten dann am Computer erfassen und sie an andere Stellen weiterleiten.
Diese Kollegen arbeiten im Zimmer schräg gegenüber. Verena Baars sitzt dort am Schreibtisch. Sie hat bereits einen der großen Bildschirme bekommen, auf den sie gerade konzentriert schaut. In der einen Hand hält sie die Fragebögen, in der anderen einen Kugelschreiber. Es sei viel zu tun, sie habe gerade keine Zeit, sagt sie, und schaut etwas verzweifelt in Richtung des Bildschirms. Dann überlegt sie es sich anders. „Ja okay, ein paar Minuten sprechen, das geht" sagt Baars. Sie bietet Besuchern einen Stuhl in der anderen Ecke des Raums an, etwa drei Meter von ihrem Schreibtisch entfernt, neben der Tür. Darauf liegt ein Sitzpolster mit Blumenmuster. Die meisten anderen Gegenstände im Gesundheitsamt sind weiß wie die Wände.
Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, leuchten Baars Augen und ein warmes Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. Vor Ausbruch der Pandemie sei sie beim Ordnungsamt beschäftigt gewesen und habe Knöllchen an Falschparker verteilt, erzählt sie. Dann habe sie sich freiwillig für die Arbeit im Gesundheitsamt gemeldet - schon im März. „Das hier ist wichtiger", sagt Baars. Sie helfe Menschen gerne. Alle Informationen, die Baars bekommt, leitet sie entweder elektronisch oder auf Papier weiter. Es gebe einen Soldaten, der die Fragebögen bei ihr abholt und sie zu den zuständigen Mitarbeitern bringe, erzählt sie. Manchmal rennt Baars aber selbst los.
Das war der Fall, als sie vor einigen Wochen eine Meldung darüber erhielt, dass ein krebskrankes Kind dringend einen Corona-Test brauchte. Ohne einen negativen Test könne es seine Behandlung nicht fortsetzen, wurde Baars gesagt. „Dann bin ich sofort aufgesprungen", sagt sie. Sie sei dann die Treppen hinaufgerannt, in den vierten Stock. Dort arbeiten Ärzte, die für das Bezirksamt Corona-Tests durchführen. Sie habe die Kollegen gebeten, zu dem Kind zu fahren, um einen Abstrich zu machen.
Baars hilft, wo sie kann. So übernimmt sie nicht nur die Informationsvermittlung, sondern setzt sich auch zu den Kollegen ans Bürgertelefon, um Anrufe entgegenzunehmen. Oft riefen ältere Menschen an, die sich Sorgen machten und sich einsam fühlten, sagt sie. Immer wieder gebe es auch schöne Momente: „Einmal habe ich mit einer 98-Jährigen telefoniert, die sich im Krankenhaus mit Corona angesteckt hat. Sie hatte gar keine Symptome und war ganz fröhlich!"
Kurz darauf verschwindet das warme Lächeln von Baars Lippen. Belastend sei die Arbeit im Gesundheitsamt schon, sagt sie. Ihre Familie helfe ihr, schwierige Erfahrungen zu verarbeiten. Das Schlimmste, an das sie sich erinnern könne, sei passiert, als sie vor kurzem einen Corona-Kranken anrufen wollte: „Es war aber keiner da. Der Mann war verstorben."