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Zeugen Jehovas: Dann war ich einfach weg

Hineingeboren in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas stieg Sarah* mit 17 Jahren aus. Eine Geschichte über Kindheit, Erwachsenwerden und die Flucht aus der Wachtturm-Gesellschaft. Aufgeschrieben von Lea Stratmann.

Ich bin mit der "Wahrheit" aufgewachsen. So bezeichnen Zeuginnen und Zeugen ihre Glaubensinhalte. Eine schöne Kindheit am Stadtrand von München, Anfang der Achtzigerjahre. Grün, idyllisch. Dass meine Freundinnen und Freunde in der Schule kein Geburtstagsständchen für mich sangen und ich keine Weihnachtsgeschenke bekam, störte mich nicht. Schließlich war ich Zeugin - wie meine Eltern. Und deren Eltern. Sie lehrten mich das Stillsitzen: In den ewigen, nicht enden wollenden Versammlungen im "Königreichssaal" und den privaten Treffen, die wöchentlich in unserem Wohnzimmer stattfanden.

Über das Erwachsenwerden

"Ein sensibles Kind muss nicht jedes Mal geschlagen werden", hieß es damals noch in unserer "Wachtturm-Literatur". Trotzdem erlebte ich Gewalt: Ohrfeigen für die, die in der Versammlung zappelten, statt zuzuhören. Oder ein "kleiner Klaps". Eine Selbstverständlichkeit, die mich meine Kindheit und früher Jugend begleitete und erste Zweifel aufkeimen ließ. Viele meiner Fragen konnte mir niemand beantworten. Ich schämte mich, wenn ich zum Verkünden unserer Lehren an der Haustür meiner Mitschülerinnen und Mitschüler klingelte oder meiner Biologie-Lehrerin die "wahre" Literatur zur Schöpfung überbringen musste. Und inmitten der lächerlichen Versammlungen starb ich fast vor Langeweile. Im Alter von zwölf Jahren merkte ich, dass es die anderen waren, die "falsch" sind. Nicht ich.

Die "Weltliche"

Mit 15 ließ ich mich das erste Mal beim sozialen Dienst des Jugendamtes beraten. Damit festigte sich mein Entschluss: Ich wollte weg. Etwas ein halbes Jahr vor meinem 18. Geburtstag zog ich über Nacht in ein Mädchenhaus. An die Nacht erinnere ich mich nur dunkel - alles ging unheimlich schnell. Das Familiengericht befreite meine Eltern von dem Recht, über meinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Es war meine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben - und ich nutze sie. Geschichtsstudium, Studentenleben, Freiheit.

Heute bin ich 39 Jahre alt und mein Ausstieg jährt sich zum 23. Mal. Trotzdem weiß ich: Die Ideologie der Zeugen Jehovas wird immer zu meiner Geschichte gehören. Viele "Königreichlieder" kenne ich noch immer auswendig. Und den Geburtstagen meiner Kinder kann ich bis heute nichts abgewinnen. Es braucht Zeit, Distanz zu gewinnen. Meinen Verstand habe ich allerdings nie abgegeben. "Erkenne die Wahrheit und die Wahrheit wird dich freimachen", heißt es nämlich bei den Zeugen. Wie ironisch - denn ich bin frei.

*Name von der Redaktion geändert