„Dieser Krieg dauert nicht acht Monate, er dauert acht Jahre"
Ist Putin noch zu stoppen, fragte Anne Will die Gäste in ihrer Talkshow. Dass man Putin ernst nehmen müsse, in diesem Punkt waren sich alle einig. Was die größte Gefahr darstelle und wie sich Deutschland verhalten solle, da gingen die Meinungen von Politikern und Publizisten auseinander.
Seit einer Woche bombardiert Putin einmal mehr gezielt zivile Ziele in der Ukraine. Mehr als einhundert Raketen trafen ukrainische Städte, Menschen auf dem Arbeitsweg, Spielplätze, Wohnhäuser.
So begann die Talkshow von Anne Will mit einem Einspieler über die aktuelle Situation in der Ukraine: Ein Mann um die fünfzig Jahre, sitzt im Auto und hält die Eindrücke in einem Video auf seiner Kamera fest: „Es ist entsetzlich zu sehen, dass es für sie keinen Unterschied macht, wohin sie schießen." Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, spricht von Genozid und ergänzt: „Selbst ein Krieg hat Regeln".
Die deutsch-ukrainische Publizistin Marina Weisband, die in Kiew geboren wurde, berichtete über ihre Familie in der Ukraine, die ihr sagte, „bei uns ist alles in Ordnung, du musst dir keine Sorgen machen". Sie empfände diese Mentalität als etwas sehr Beachtenswertes. Selbst wenn in Kiew Bomben fielen, „sitzen am nächsten Tag die Menschen wieder in Straßencafés, und zwar aus gewissem Trotz, aus einer Liebe zur Freiheit, aus einer Widerspenstigkeit."
Das erklärte sich die Publizistin mit der Geschichte des Landes: „Dieser Krieg dauert nicht acht Monate, er dauert acht Jahre", bemerkte Weisband mit Anspielung auf die Annexion der Krim 2014. Der Krieg sei darauf ausgelegt, „Terror zu veranstalten, die Zivilbevölkerung zu töten und die Ukraine als Land zu vernichten." Dem stelle sich die ukrainische Gesellschaft entgegen, fasst sie die bisherigen Entwicklungen zusammen.
Mit Ausblick auf die kommenden Monate ist Weisband sicher: Das Beste, was Putin jetzt passieren könne, „ist ein Einfrieren des Konflikts, ein Waffenstillstand, damit er dann in Ruhe aufrüsten kann und dann im Januar, Februar die neue Invasion fahren wird."
Dem widersprach die Politologin und Russland-Expertin Sarah Pagung deutlich. Putin wolle nicht versuchen, zum jetzigen Zeitpunkt einen Waffenstillstand herzustellen. Mit der „Mobilmachung in Russland und der Annexion der Gebiete im Donbass" nähme Putin „alles, was an Kompromissmasse für Verhandlungen da wäre" aus dem Spiel und mache damit Verhandlungen unmöglich, so Pagung.
Kann man Putin alles zutrauen, fragte Will die Gäste der Sendung und spielte damit auf Putins Drohung von Nuklearwaffen an. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, berichtete von ihrem Besuch in Tschernobyl vergangene Woche. Er zeigte ihr nochmals deutlich, „dass Putin seine eigenen Leute einfach verheizt".
Die Soldaten, die zu Kriegsbeginn im Februar dieses Jahres das Tschernobyl-Gelände besetzten, Schützengraben ausgehoben und das Wasser vor Ort getrunken hätten, würden die Konsequenzen zu spüren bekommen. Damit bediene Putin vom ersten Tag an ein „nukleares Narrativ, weil er natürlich weiß, das erregt große Sorge auch in den Nachbarländern." „Der Optimismus ist ungebrochen", schilderte die FDP-Politikerin die Stimmung ihrer ukrainischen Gesprächspartner.
„Man muss alles ernst nehmen, was der Mann tut", fasste der frühere SPD-Chef Martin Schulz die gemeinsame Grundüberzeugung der Gäste zusammen. Im Detail differenzierten sich die Meinungen allerdings. Schulz sah in Putin vor allem einen KGB-Offizier, „ein Geheimdienstmann", der perfekt sei im „Täuschen" und „Ausreizen aller Optionen". Doch am Ende sei es „so, dass er niemals den Schritt mache, sein eigenes System zu vernichten."
Für den russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew, der im Frühjahr 2022 aus Moskau nach Deutschland emigrierte, ist Putin vor allem „ein Mann des Krieges, ein Hinterhofschläger." Das heutige Russland befände sich nun in einem Todeskampf, in einer „Agonie". Russland selbst sei im Todesschmerz und „alle Streitkräfte, die gegen die Zivilbevölkerung reingeworfen werden, sind die Verzweiflung von Putin."
Und Putin? „Er wird alles machen, um nicht als Verlierer dazustehen, alles." Dennoch deutete Jerofejew die überraschend starke ukrainische Bevölkerung als Beweis, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen könne. Weisband sah die größte Waffe Putins bisher nicht in seinen Drohungen von nuklearen Angriffen. „Die stärkste Waffe von Putin ist unsere Angst", so die Publizistin.
Daraus schlussfolgerte Weisband bei der Frage um den Umgang Deutschlands und des Westens mit Putins Angriffskrieg: „Der allerbeste Schutz ist die Ankündigung von Konsequenzen". Während US-Präsident Biden vergangene Woche im Zusammenhang eines Nuklearschlags von Russland von „Armageddon" sprach, drückte sich Schulz wesentlich zurückhaltender aus.
Der „Erfolg der westlichen Staatengemeinschaft besteht darin, dass wir gemeinschaftlich handeln", verteidigte der SPD-Politiker den bisherigen Kurz des Bundeskanzlers. Strack-Zimmermann kritisierte die Bundesregierung: „Wir machen eine Menge, aber da ist noch Luft nach oben."
Das belegte die Politologin Pagung mit den ihr vorliegenden Daten: Die USA liefere demnach genauso viel finanzielle, militärische und humanitärer Hilfe wie alle EU-Staaten und EU-Institutionen zusammen. Am Ende sei es „ein Krieg in Europa und man muss es ganz klar sagen: Ohne die USA wären wir da aufgeschmissen."
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