Thomas Mann und "der stille Held in seinen Büchern"
Travemünde im Sommer, die Ostsee. Ein kleiner Junge, sieben Jahre alt, blickt in die rauschenden Wellen. Das Meer sieht er an diesem Tag zum ersten Mal. Noch ahnt er wahrscheinlich nichts von den Gefahren, die dieses Gewässer für ihn bereithält. Die Sommerferien verbringt er am Strand, spielend, träumend, befreit.
Thomas Mann hat das Meer geliebt. Seine erste Begegnung mit dem Meer hat er später als die glücklichsten Tage seines Lebens bezeichnet. Volker Weidermann nimmt diese Liebe zum Anlass, das Leben eines der größten Erzähler des letzten Jahrhunderts einmal anders zu erzählen. Der „Zeit“-Feuilletonist und Literaturkritiker legt mit „Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens“ eine Art „Meeresbiografie“ vor. Darin geht es um Thomas Manns große Sehnsucht nach dem Meer und seinem befreienden, beglückenden Erlebnis. Aber auch um den Kampf, den der Schriftsteller gegen das „Meer in sich selbst“ zeitlebens führt.
„Das Meer ist der stille Held seiner Bücher“, schreibt Weidermann und zeichnet Manns Leben und Werk an einem Zeitstrahl nach. Los geht die Reise an einem Paradiesstrand mit Palmen. Thomas Manns Mutter wächst am blauen Meer in Paraty auf, südlich von Rio de Janiero. Mit sechs Jahren muss sie Brasilien verlassen und kommt nach Lübeck. In der fremden Welt muss sie sich anpassen, sich selbst „verleugnen“. Sie heiratet nicht den Mann, den sie liebt, sondern einen angesehenen Kaufmann. Die Meeressehnsucht, aber auch die „Selbstverleugnung“, so Weidermann, gibt Julia Mann an ihren Sohn weiter.
Für die "Buddenbrooks" erhielt Mann den Nobelpreis
Diese zwiespältigen Gefühle trägt Thomas Mann lange in sich. Und vererbt sie an seine Helden. Der kleine Hanno Buddenbrook ist zu schwach, zu unmännlich, am Meer soll er genesen. Stattdessen verliebt er sich in die rauschenden Wellen. In der untergehenden Kaufmannsdynastie „Buddenbrooks“ (1901) hat der Schriftsteller auch sich selbst und seine Familie porträtiert. Für den Roman erhielt er später den Nobelpreis. Das Meer, auch hier entfaltet es sein gefährlichen Kräfte: Nur am Strand von Travemünde sind die „Buddenbrooks“ befreit von den Zwängen ihres Standes. Für mindestens einen von ihnen endet das im Tod.
Überhaupt: Thomas Mann lässt viele seiner Helden am Strand sterben. Auch er ist von der „Meeresdroge“ abhängig, reist immer wieder an die Küste, oft nach Italien. Aber er leidet unter einer „falschen Liebe“. Lange Zeit will sich Mann nicht eingestehen, dass er Männer liebt. Den Schmerz darüber verarbeitet er in den Novellen „Tonio Kröger“ (1903) und „Tod in Venedig“ (1911).
Eindrucksvoll schildert Weidermann den tragischen „Meeressog“, in den diese beiden Helden geraten. Gustav von Aschenbach, ein Schriftsteller, der sich den Ruhm mit viel Fleiß erkämpfte, rafft die Knabenliebe am Strand von Venedig dahin. Aber Tonio Kröger kann widerstehen. Dank der Kunst, sie wird zu seinem Credo – und zum Credo seines Schöpfers.
"Zauberberg": Wende in Leben und Werk
„Er will erkannt werden, ohne sich zu erkennen zu geben“, sagt Weidermann über Thomas Mann, der seine Zerrissenheit bekämpft, indem er sich in seinem Werk „so persönlich und ungeschützt wie möglich“ preisgibt. Einmal hat sich der Romantiker Mann dann doch verloren. Als sich Deutschland in den ersten Weltkrieg stürzt, schreitet auch er zum „Kriegsdienst am Schreibtisch“. Und wettert für den Krieg, und gegen die Demokratie. Ganz zum Ärger von Bruder Heinrich, der 1914 den „Untertan“ schreibt.
Aber Weidermann lässt Thomas Mann ja das „Meer in sich“ bezwingen. Und zwar ausgerechnet im „Zauberberg“ (1914). In dem Roman schickt Thomas Mann seinen Helden ausnahmsweise mal in die Berge, und nicht ans Wasser. Oder doch ans Wasser? So oder so: „Der Todessympathisant wird Verantwortungsdichter“, beschreibt Weidermann die Wende, die das Leben und Werk von Thomas Mann von da an nehmen.
Am Ende liest sich das Buch fast wie ein Abspann. Manns Kampf gegen den Nationalsozialismus, die Überfahrt ins Exil: „Er fährt hier auf dem Atlantik einmal durch sein Leben, umrundet auf der Fahrt in die neue Welt einmal die ganze Welt.“ Eigentlich schreibt Thomas Mann noch viele weitere große Romane und Werke. Sie werden aber nur noch im letzten Kapitel erwähnt.
Ende mit Gänsehaut-Effekt
Weidermann, selbst ein großer Erzähler, lässt am Lebensende von Thomas Mann richtig Gänsehaut entstehen. Die Meeresliebe überträgt sich weiter. Lieblingstochter Elisabeth wird Ökologin und Seerechtsaktivistin, kämpft als Mitbegründerin des „Club of Rome“ für eine nachhaltige Zukunft.
„Mann vom Meer“ ist eine runde Geschichte und wohl auch deshalb ist keine richtige Biografie, sondern auch Erzählung. Ob sich das alles so zugetragen hat, ob Manns Leben und Werk tatsächlich so eng verwoben waren, bleibt zu bezweifeln. Weidermann kommt ohne all die Begriffe aus, mit denen die Mann-Forschung das Werk des großen Erzählers zerkaut hat. Stattdessen lässt er den Leser die Gefühle und Gedanken Schriftstellers lesen und spüren. Jahrzehntelang mussten sich Schülerinnen und Schüler durch die „Buddenbrooks“ beißen. Vielleicht lernen sie den „Mann vom Meer“ jetzt lieben.
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