Für Studierende mit Behinderung bedeutet das Onlinestudium vor allem eines: Erleichterung. Viele Hürden fallen weg. Doch digitale Barrierefreiheit gibt es noch nicht.
"Ich könnte mich glatt daran gewöhnen, keine 'lustigen' Menschen mehr um mich herum zu haben, die alle Knöpfe vom Aufzug drücken, ohne einzusteigen", erzählt Lucas am Telefon. Der 23-Jährige ist Rollstuhlfahrer. Er studiert an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen Journalismus und PR. Wenn der Aufzug in der Uni nicht funktioniert, muss er sich umständlich über den Lastenaufzug im hintersten Teil des Gebäudes in den dritten Stock befördern lassen. Im Homeoffice kann er einfach vom Bett zum Schreibtisch rollen und muss nicht extra 15 Minuten für jeden Klogang einplanen.
Für die Hochschulen, die Lehrenden und die Studierenden geht es jetzt ins dritte digitale Semester. Und das ist immer noch eine Herausforderung. Für viele Studierende mit Behinderung jedoch ist das Studium im Homeoffice eine große Erleichterung.
Für Lucas bedeutet der neue Alltag: Er kann sich einfach auf Zoom zuschalten, genau wie die anderen in seinen Kursen. Sonst beginnen die Probleme meist schon auf dem Weg in die Uni: Lucas wohnt in Oer-Erkenschwick, knapp 30 Kilometer von Gelsenkirchen entfernt. "Da es schwierig für mich ist, mich barrierefrei in neuen Städten zu bewegen, bin ich zu Hause bei meinen Eltern wohnen geblieben", sagt er. Wenn der Aufzug am Bahngleis kaputt ist, muss Lucas den nächsten Zug zu einem anderen Bahnhof nehmen und von dort aus mit dem Bus weiterfahren. "Manchmal hatte der Busfahrer keine Lust, die Rampe herunterzuklappen. Dann musste ich auf den nächsten warten und war drei Stunden statt eine unterwegs", erzählt er. Wenn er um acht Uhr morgens eine Klausur schreiben muss, steht Lucas früh auf, damit er auf jeden Fall pünktlich kommt.
Mehr digitale AngeboteSo wie Lucas geht es vielen Studierenden mit Behinderung. Sie kämpfen in ihrem Alltag ständig mit Barrieren. Unterstützung erhalten sie von den Behindertenbeauftragten an den Hochschulen oder den Studentenwerken. Christiane Schindler ist Leiterin der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks. Ihre Aufgabe ist es, Wissen in dem Feld zu sammeln und für verschiedene Akteurinnen wie Hochschulen, Studentenwerke und Verbände aufzubereiten. "Wir unterstützen dabei, die Rahmbedingungen für eine barrierefreie und inklusive Hochschule zu schaffen", sagt Schindler. "Außerdem beraten wir Studieninteressierte und Studierende mit Behinderung." Sie betont, dass die ersten Ansprechpersonen für Studierende die Beauftragten der Hochschule seien. So solle das Beratungsangebot der IBS lediglich das Angebot vor Ort in den Unis ergänzen.
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Was Barrierefreiheit in Hochschulen betreffe, habe sich in den vergangenen Jahren viel getan, sagt Schindler. Inklusion in der Bildung ist mittlerweile in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert. Statt einzelne Maßnahmen wie den Bau von Aufzügen umzusetzen, müssen Hochschulen jetzt Aktionspläne entwickeln. Das heißt: Alle Fachbereiche und Einrichtungen sind für ein barrierefreies Lehr- und Lernangebot verantwortlich. Das führt dazu, dass die gesamte Hochschule in den Blick genommen wird und Lücken in der Barrierefreiheit schnell geschlossen werden können.
Jetzt in der Pandemie beschäftigt sich Christiane Schindler vom Deutschen Studentenwerk vor allem mit einem Problem: die neuen Barrieren im digitalen Lernen. Zwar gibt es Gruppen, die von der derzeitigen Situation profitieren, weil sie Anfahrtswege sparen oder während eines Krankenhausaufenthalts flexibler studieren können. Doch für andere ist der Zugang zu den Vorlesungen und Seminaren erschwert: Studierende mit Hör- oder Sehbeeinträchtigung. Sie brauchen zum Beispiel Untertitel in Videos. Oder die Lehrmaterialien müssen mit Screen-Readern kompatibel sein - also von bestimmten Programmen vorgelesen werden können. Diese Hürden werden derzeit kaum mitgedacht. "Zu Beginn der Pandemie mussten die Hochschulen überhaupt erst mal ein Lehrangebot sicherstellen", sagt Schindler. Vor Corona gab es Onlinelehre in diesem Umfang nicht.
Deshalb brauche es jetzt Konzepte für digitale Barrierefreiheit, sagt Schindler. Zum Beispiel muss in Netzinfrastruktur investiert werden. Viele Studierende haben keine stabile Internetverbindung. Auch das ist eine Barriere. Oft sei der Barrierefreiheitsbegriff verengt und auf bauliche Barrieren oder auf Studierende mit sichtbarer Behinderung beschränkt. Wichtig sei vor allem, die Vielfalt an unterschiedlichen Behinderungen zu berücksichtigen. "Aktuell liegt der Schwerpunkt vor allem auf barrierefreien digitalen Lehr- und Lernangeboten", so Schindler. "Das muss weiter ausgebaut werden."
Anja Schneider steht beim digitalen Lernen vor Schwierigkeiten. Sie studiert digitales Projekt Management an der Fachhochschule in Brühl. Gerade hat sie Urlaub, um für eine Prüfung zu lernen, die in den nächsten Tagen ansteht: Cyberphysische Systeme und Informatik. "Ich studiere dual und ohne Lernurlaub würde ich das gar nicht schaffen", sagt die 24-Jährige. Nach dem Studium möchte sie erst einmal in der Softwareentwicklung bleiben und später in einer Managementposition arbeiten. Davor aber muss sie als sehbehinderte Studentin im Homeoffice zunächst ihrer monotonen Vorlesesoftware zuhören. Die kann jedoch viele Fachbegriffe nicht richtig aussprechen. "Das ist super anstrengend und ich muss mir die Texte x-mal anhören", erzählt Anja. In der Uni konnten Kommilitoninnen ihr die Texte noch vorlesen. "Wenn die Vorlesesoftware ganz katastrophal klingt, unterstützt mich zu Hause mein Freund und liest mir die Texte vor."