Stundenlang habe ich damals geheult. Ich war gerade 17, ich kam von einer Berufswahlmesse an der Schule. In meinem Kopf waberte ein dicker Nebel aus Unsicherheit und Selbstzweifeln. Meine Freundinnen trainierten für irgendein Assessment-Center oder schrieben sich an einer Universität ein. Alle hatten einen Plan, nur ich hatte keinen. Was nur sollte ich mit meinem Leben anfangen?
Je näher das Abitur rückte, desto größer wurde meine Scham. Meine Mutter kaufte mir einen Berufsratgeber. Nichts. Ich recherchierte im Internet. Nichts. Ich machte ein Praktikum. Und noch eins. Nichts.
Heute, zehn Jahre später, sitze ich hier und bin froh, dass ich planlos war. Ich machte nach dem Abitur ein paar Jobs, verdiente Geld, reiste ins Ausland. Ich ließ mich treiben. Rückwirkend hat alles einen Sinn ergeben. Aber niemals hätte ich es so planen können.
So oder ähnlich wird es anderen jungen Leuten gehen, die ihren Zeh in den Pool der Möglichkeiten dippen: Welchen Weg schlage ich ein? Ist es ratsam, einfach so durchs Leben zu dümpeln? Oder sollte ich tolle Pläne schmieden - und geht das überhaupt?
Das Leben ist das größte Planspiel, denn es hat kein Ende. Seit Hunderttausenden von Jahren springt der Mensch auf der Erde herum und sucht den Sinn. Er hofft, der offenbare sich ihm in einem Plan - früher wohl in einer göttlichen Bestimmung, heute vielleicht eher in einer Form von Selbstverwirklichung. Der Mensch will das große Ganze begreifen und vergisst, dass er Teil davon ist. Er kann die tollsten Pläne machen und ist trotzdem zum Zuschauen verurteilt, wenn sie scheitern. Oder muss blitzartig neue machen: Welcher Nasa-Experte hätte damals einkalkulieren können, dass auf der Apollo 13 ein Sauerstofftank explodiert? Der berühmte Satz "Houston, we've had a problem" forderte die Kreativität der Ingenieure auf völlig neue Art heraus.
Gäbe es eine Schublade für alle gescheiterten Pläne der Menschheit, sie wäre vermutlich größer als die Erde selbst. Wäre es besser, keine Pläne zu machen?
Eine Weltraummission kann nicht ohne funktionieren. Und eine Vielzahl anderer Dinge im Leben ebenso wenig. Und trotzdem gibt es Geschichten, in denen sich alles, was schieflief, zu einem Besseren fügt, auch oder gerade ohne Kalkül.
An das Wort "planlos" sind im Duden eine Vielzahl negativ konnotierter Synonyme gekettet wie "unkoordiniert", "schusselig", "chaotisch" oder "verpeilt". Dabei muss auf Menschen, die ohne Plan leben, nichts davon zutreffen. Wie ist es, plötzlich ohne Plan zu sein? Welche Rolle spielt das Schicksal, die Angst, die Zeit oder der Mut? Auf der Suche nach einer Antwort treffe ich vier Menschen, die bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder absichtslos in die Planlosigkeit gedriftet sind. Und so ist dieser Text eine Geschichte des Scheiterns, der Angst, des Schmerzes, aber auch eine der Freiheit, der Zufriedenheit und vor allem des Glücks.
Man kann nicht über Pläne sprechen, ohne an die Zeit zu denken. Als ich klein war, war Michael Endes Märchenroman Momo eines meiner Lieblingsbücher. Wir benannten unsere Katze nach der Hauptfigur, dem Mädchen Momo, das den Menschen ihre kostbare Zeit wiedergeben möchte, die von den grauen Männern, dem verkörperten Kapitalismus, gestohlen wird. Momos Stärke ist das Zuhören, ihr ist es egal, ob jemand einen Plan hat oder welcher Bestimmung er folgt. Karlheinz Geißler, 76, sieht vielleicht eher wie einer dieser grauen Männer aus, aber innerlich ähnelt er Momo.
In Geißlers Münchner Wohnung hängt keine Uhr an der Wand. An seinem Handgelenk wird sich nie eine Armbanduhr befinden. Die einzigen Uhren, denen er in seinen eigenen vier Wänden manchmal begegnet, befinden sich am Displayrand seines Computers, am Fernseher und am Ofen in der Küche. Er beachtet sie nicht - seit mehr als 30 Jahren. Für ihn ist die Uhr ein mechanischer Gegenstand, der den Menschen entgegen seiner Natur taktet. "Wer sich an einem toten Gerät orientiert, ignoriert seine lebendige innere Uhr", sagt Geißler und meint damit Jahreszeiten, Biorhythmus, Sonnenlicht. Alle Signale, nach denen Menschen bis vor 600 Jahren gelebt haben, bis sie die Uhr erfanden.
Geißler ist Zeitwissenschaftler. Als er fünf Jahre alt war, bekam er Kinderlähmung. Er musste den aufrechten Gang neu erlernen - und sein Leben sei entschleunigt worden, sagt er heute. Das hat seine Karriereplanung beeinflusst. "Ich war niemand, der konkurrieren konnte, wenn es um Schnelligkeit geht", sagt Geißler. "Das hat mein Leben geprägt: Wie kommt man vorwärts durch Langsamkeit?" Er entschied sich für eine Hochschullaufbahn und wurde Professor für Wirtschaftspädagogik. Das brachte ihn der Zeit näher. "Unternehmen verrechnen Zeit in Geld", sagt Geißler. Für sein Fach eine Paradoxie und ein Spaß: "Wenn man in Betrieben Pädagogik betreibt, muss man in einem Umfeld, in dem Zeit gewonnen wird, Zeit verlieren." (...)
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