22. Juli 2017 / Zuerst erschienen in Groove 167 (Juli/August)
Giegling ist das Undergroundmärchen par excellence: Ohne sich szeneüblichen Vermarktungsstrategien zu unterwerfen, hat es das Kollektiv aus Weimar ganz nach oben geschafft. Mit ihrer ersten Welttournee „Planet Giegling“ präsentierten sie in 18 Städten ein interdisziplinäres Konzept.
„Oh Mist, jetzt hab ich dich glatt vergessen!“ Hastig springt Konstantin von der Couch auf, als ich die Schöneberger Galerie The Ballery am Nollendorfplatz betrete. Silberne Heliumballons hängen unter der Decke, zwei Männer schieben ein schwarz glänzendes Klavier durch den Raum, während eine junge Frau die Hängung ihres großformatigen neonpinken Gemäldes kritisch begutachtet. In wenigen Tagen soll hier die Vernissage stattfinden. Die Ausstellung mit Werken der Giegling-Künstler ist neben einem Livekonzert und einer Partynacht Teil des dreiteiligen Konzepts der „Planet Giegling“-Welttournee, von der Konstantin und der Rest des Kollektivs gerade ziemlich erschöpft zurückkommen.
Giegling scheint das Label zu sein, auf das sich zurzeit alle einigen können. Mit ihren melodischen Produktionen führen sie die DJ-Charts an, Resident Advisor kürte sie zum Label des Jahres 2016. Dabei geht es bei Giegling um weit mehr als die Musik. Neben Musikern und DJs sind auch Maler, Lichtkünstler, Bildhauer, Kuratoren und Kreative verschiedenster Disziplinen Teil des Kollektivs aus Weimar. Die Welttournee sehen sie als Versuch, einen Rahmen zu schaffen, diese verschiedenen Einflüsse zu bündeln. Doch es gab auch persönliche Gründe: „In den vergangenen Jahren hat jeder viel an seinen eigenen Projekten gearbeitet. Daher gab es für die Tour diese Motivation von innen heraus, dass wir uns alle mal wieder zusammenfinden und in ein Projekt gemeinsam einbringen. Dass sich alle wieder damit infizieren lassen und sich diese ganze Energie von allen wieder konzentriert“, erklärt Konstantin, als wir mit einem Kaffee in der Hand durch den belebten Schöneberger Kiez spazieren. Es ist ein sonniger Nachmittag Ende März, in bunte Fleecedecken gehüllt sitzen die Wintermüden vor den Straßencafés und schlürfen nicht ganz ohne Trotz den ersten Cappuccino im Freien. Es ist nicht mein erstes Gespräch mit Konstantin, der unter anderem als Teil des DJ-Duos Kettenkarussell auflegt.
Für ein Feature über die mit Giegling verwachsene Künstlergruppe Syc haben wir uns bereits vergangenen Sommer auf der Fusion getroffen, wo sie jährlich die Querfeld-Bühne gestalten. Für Konstantin bedeutet Giegling ein Aufgehen des Einzelnen im Kollektiv, jeder kann und soll sich mit seinen jeweiligen Fähigkeiten und Talenten gleichberechtigt einbringen. Gemeinsam etwas Größeres zu erschaffen, wozu der Einzelne außerhalb des Kollektivs nicht imstande gewesen wäre, wurde somit auch zum Leitgedanken der Tour. „Planet Giegling erforscht die hintersten Ecken des Giegling-Universums. Es wird eine Reise zurück zu unseren Wurzeln und in unsere Zukunft sein. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, der uns einen Schritt näher zum Gesamtkunstwerk bringt“, heißt es in dem etwas esoterischen Pressetext zur Tour. Das „Gesamtkunstwerk“, ein von Richard Wagner entlehntes Konzept, plädiert für die völlige Einheit der verschiedenen Kunstformen. Gleichzeitig stellt sich Giegling damit in die Weimarer Bauhaus-Tradition, die ihrerseits versuchte, die Architektur als Gesamtkunstwerk mit den anderen Kunstformen zu verknüpfen. Auch wenn fast keines der Kollektivmitglieder noch dort lebt, bleibt der gemeinsame Studienort Weimar künstlerischer Ausgangspunkt und glorifizierter Sehnsuchtsort zugleich.
Der Weimar-Spirit
„Ich hab die krasseste Nostalgie für diese gemeinsame Zeit in Weimar, das war einfach ein magischer Ort! Es gab Architekten und Produktdesigner, Musiker, Künstler, Grafikdesigner, die alle so am Puls der Zeit waren. Alle irgendwie in dieser Bauhaus-Denke mit interdisziplinären Gedanken, alle wollten ihre Sachen so experimentell und neu wie möglich machen. Da war einfach eine geile … Luft sozusagen.“ Wenn Konstantin über Weimar spricht, gerät er fast ins Schwärmen. Und auch die anderen Kollektivmitglieder erwähnen immer wieder den „Weimar-Spirit“, der mit der Tour wieder heraufbeschworen werden sollte. Seit den gemeinsamen Anfängen in der thüringischen Provinz Mitte der Nullerjahre hat das Label einen gewaltigen Hype erfahren. Dieser manifestiert sich besonders im Hinblick auf die Giegling-Platten. Die Produktionen erscheinen ausschließlich auf Vinyl und sind meist nach kürzester Zeit vergriffen. Dass dadurch die Preise auf Discogs oft in absurde Höhen schnellen und zudem internationale DJs aus Ländern, in denen der Zugriff auf gut sortierte Plattenläden limitiert ist, ausgeschlossen werden, stößt aber auch auf Kritik. Eine bewusste Verknappung zur Wertsteigerung der Platten will sich das Label allerdings nicht nachsagen lassen: „Uns war von Anfang an wichtig, den Platten durch das aufwendige Artwork einen Extra-Layer hinzuzufügen.
„Wir machen ja alles von der Produktion bis zum Vertrieb selber und geben nichts aus der Hand. Dass es dann nicht möglich ist, Tausende Platten zu produzieren und alle paar Monate ein Repress rauszubringen, das sehen die Leute halt nicht“, ärgert sich Labelmitgründer DJ Dustin. Er ist genervt von dem Hype, der vom Label nie so intendiert oder forciert worden sei. Dass Giegling diese Aufmerksamkeit durch ein gewisses Anti-Marketing jedoch durchaus auch selbst befeuert, lässt sich allerdings nicht ganz von der Hand weisen. Als Gegenentwurf zur medialen Dauerpräsenz vieler DJs erfährt man kaum etwas über Giegling in sozialen Netzwerken. Auf die Spitze treibt dies der Inkognito-Künstler Prince of Denmark, der unter anderem auch Platten als Traumprinz und DJ Metatron herausbringt. Seine euphorische, tranceartige Hymne „2 The Sky (Metratron’s What If There’s No End And No Beginning Mix)“ war 2016 in nahezu allen Jahresbestenlisten zu finden. Gleichzeitig weiß niemand genau, wer hinter den zahlreichen Pseudonymen steckt, da er nicht öffentlich auflegt. Das letzte Prince-of-Denmark-Album 8, eine umfangreiche Vinylbox für 100 Euro, war im Versand bereits ausverkauft, noch bevor auch nur ein Track online zu hören war.
Ebenso wie Giegling in ihren Produktionen nichts aus der Hand geben, so ist es für Konstantin auch in puncto Außenwirkung und Publikum besonders wichtig, die Kontrolle zu behalten. Die Welttournee war für ihn daher auch ein Versuch, den Hype selbst wieder etwas bewusster zu steuern. „Wenn uns das Publikum teilweise nicht mehr gefällt, dann muss man dafür auch die Verantwortung übernehmen und sich fragen: ‚Wo sind die Leute, auf die wir Bock haben?‘ Das Publikum ist das, was eine Party geil macht. Daher haben wir dieses Dreieck aus Konzert, Ausstellung und Party, mit dem man ein jeweils etwas anderes Publikum anspricht. Auf der Party kommt dann alles zusammen. Wir haben gehofft, damit noch ein Publikum zu finden, das ein bisschen neugieriger ist“, erklärt er.
Boys’s Club
Konstantin scheint der visionäre Kopf der Gruppe zu sein, auch wenn er diese Zuschreibung ablehnt. Der kollektive Gedanke, nach dem sich alle Mitglieder gleichberechtigt einbringen, steht für ihn im Vordergrund. Deshalb findet er es auch besonders wichtig, dass Giegling in der Presse geschlossen mit einer Stimme spricht, ohne einzelne Individuen herauszustellen. Dass dies problematisch wird, sobald Einzelstimmen mit der im Kollektiv vorherrschenden Meinung kollidieren, wird spätestens am nächsten Tag deutlich.
Ich treffe Konstantin am darauffolgenden Morgen in der Bahn auf dem Weg zum Konzert nach Leipzig wieder. Über eine belanglose Anekdote entspinnt sich eine ziemlich unerwartete Diskussion über Feminismus im Allgemeinen und explizit über Frauen in der elektronischen Musikszene. Wie bei vielen Labels an der Spitze ist auch bei Giegling der Anteil beteiligter Frauen verschwindend gering, die meisten agieren wenn überhaupt im Hintergrund. Nach außen hin repräsentiert das Label das, was in feministischen Kreisen als Boys’s Club bezeichnet wird – eine homogene, männerdominierte Gruppe, die undurchlässig für Frauen erscheint. Statt sich jedoch, wie man es aus den tendenziell eher linken Räumen der Technoszene erwarten würde, für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter an den Decks und die Unterstützung weiblicher und nicht binärer DJs auszusprechen, äußert sich Konstantin in diesem Punkt unerwartet heftig. Er empfände es als ungerecht, dass weibliche DJs zurzeit so sehr gefördert würden, obwohl sie seiner Meinung nach meist schlechter auflegten als Männer. Seiner Logik zufolge sei es demnach für Frauen wesentlich einfacher, als DJ erfolgreich zu werden, da die wenigen Frauen, die sich für das Auflegen interessierten, unverhältnismäßig gepusht würden.
Dass genau solche Initiativen aufgrund von institutionalisierter, struktureller und vor allem versteckter Diskriminierung für einen gesellschaftlichen Wandel dringend notwendig sind, scheint für Konstantin kein Argument. Stattdessen begründete er seinen Standpunkt mit pseudowissenschaftlichen Belegen für ein „natürliches“ Machtstreben und Geltungsbedürfnis, das dem Mann von Natur aus inhärent sei. Folglich würden Frauen, die eine Karriere in dem von Männern dominierten DJ-Business anstrebten, ihre „weiblichen Qualitäten“ verlieren und zusehends „vermännlichen“.
Ich suche daraufhin das Gespräch mit Dustin und der bildenden Künstlerin Frauke. Sie ist eine der wenigen Frauen, die als Teil des Kollektivs auch auf der Tour mit dabei war. Beide versichern mir, dass dies im Kollektiv eine explizite, wenn auch nicht unbekannte, Einzelmeinung sei. Diese habe nichts mit den Ansichten der restlichen Labelmitglieder zu tun, die sich geschlossen davon distanzierten. „In einem Kollektiv macht natürlich jeder auch noch sein eigenes Ding und geht seinen eigenen Weg. Grundsätzlich ist Sexismus aber kein Thema in der Gruppe. Wir haben gerade seit der Tour alle ein familiäres Verhältnis. Ich habe keine Geschwister, aber ich denke, so fühlt sich das an – man liebt sich und man streitet sich eben auch über gewisse Dinge“, beschreibt Frauke das Verhältnis untereinander.
Dieses familiäre Verhältnis spürt man auch bei der Ankunft am Leipziger UT Connewitz, wo am Abend das Konzert stattfindet. Überschwänglich begrüßen sich alle, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen. Zwei Monate waren sie in 18 Städten in 15 Ländern unterwegs. „Die Tour war so wie Klassenfahrt, nur ohne Lehrer“, meint DJ und Produzent Vril lachend, als wir das ehemalige Theater betreten. Drinnen werden schwere Blumenvasen mit riesigen Bouquets auf die Bühne gehievt, Teelichter verteilt und Kabelbinder festgezogen. Auf einem langen Holztisch stehen fünf MacBooks in einer Reihe, die leuchtenden Apfelsymbole mehr oder weniger sorgfältig mit schwarzem Panzertape abgeklebt. „Das sieht dann später von unten aus wie eine Mischung aus LAN-Party und Beerdigung“, scherzt Konstantin, der beim Konzert gemeinsam mit Ateq, Leafar Legov, Vril und Edward live spielen wird.
Als sich die Türen öffnen, stürmen die Ersten zielstrebig Richtung Plattentisch, an dem sich schnell eine Schlange bildet. „Auf Discogs hätte ich dafür doppelt so viel bezahlt“, rechtfertigt ein junger Mann den Plattenstapel in seinem Arm. „Was habt ihr von Traumprinz?“, fragt der nächste und kauft scheinbar wahllos alles, was er kriegen kann – inklusive der 100 Euro teuren Vinylplattenbox des jüngsten Prince-of-Denmark-Albums. Der Verkäufer am Plattentisch dreht sich erstaunt zu mir um und zuckt ratlos mit den Schultern.
Faszination Giegling
Worin liegt die Faszination um Giegling begründet? Ist es tatsächlich nur die wahnsinnig detailreiche, gut produzierte Musik, die in ihrer melodischen, emotionalen Verträumtheit einfach ein breites Publikum anspricht? Ist es die Unnahbarkeit der Musiker, die sich bewusst im Hintergrund halten und somit wie Popstars der Prä-Instagram-Zeit noch genügend Raum zur Spekulation lassen? Oder ist es die idealisierte Erzählung von Giegling als filmreifes Undergroundmärchen, die das Label zur idealen Projektionsfläche werden lässt? Im Konzert zeigt sich, dass Giegling es ernst meint mit der Interdisziplinarität, auch wenn die drei dem Konzert vorangestellten Performances etwas zusammenhangslos wirken. Die erste spielt mit ohrenbetäubenden Störgeräuschen und dem Flirren zweier Leuchtstoffröhren.
Anschließend kommt ein schwarzer Tänzer in weißem Rüschen-Brautkleid leise singend die Bühnentreppe hinab. Halb Gesang, halb Sprechritus beschmiert er sein Gesicht mit leuchtender Neonfarbe, während er tanzend in Ekstase gerät. Die darauf folgende Ambient-Live-Elektronik schlägt wiederum den Bogen zum Konzert und lässt eine verzerrte Sounddusche auf das Publikum hinabprasseln, die in einem psychedelischen Orgelostinato zum Stehen kommt. Stille. Dann Applaus. Im Nebel tauchen fünf Silhouetten auf und verschwinden hinter einer Wand aus Laptops und Effektgeräten. Ein Donnerschlag erklingt, leises Regenprasseln erfüllt das Theater, während sich langsam eine verspielte Synth-Melodie herauskristallisiert. Die Elemente mäandern, fließen ineinander. Ein Jazzsaxofon-Solo erklingt, schlendert vorbei, um mit dem eingespielten Knarzen einer alten Plattennadel wieder zu verschwinden. Man hat das Gefühl, in einen Film einzutauchen. Wenn man die Augen schließt, zeichnet die Musik Bilder auf die Innenseite der Lider.
Konstantin hatte das Konzert im Vorfeld mit einer Autofahrt durch den Wald verglichen, bei der sich nur der Einfall des Schattens mit der vorbeiziehenden Landschaft verändert. Die verträumte Grundstimmung des Giegling-Sounds zieht sich als strukturierendes Element durch, doch die Musik ändert ständig ihren Aggregatzustand. Als nach ungefähr 25 Minuten der erste Drop kommt und endlich ein tanzbarer Beat einsetzt, atmet das gespannte Publikum sichtlich erleichtert auf. Einige johlen wie im Club, wippen im Sitzen mit dem Kopf. Die einzelnen Künstler verschmelzen zu einem komplexen Soundgebilde mit verschiedenen Facetten, die flatterhaft sind wie Schmetterlinge. Sobald man glaubt, einen Track erkannt zu haben, ist er schon wieder verflogen. Vielleicht ist es dieses Flüchtige, Ungreifbare, das den Reiz um Giegling ausmacht. Ihre Musik bleibt zugänglich, ohne je den hauntologischen Schatten zu verlieren, der nostalgisch Erinnerungen heraufbeschwört, die man eher im Vorbeihuschen wahrnimmt, als sie tatsächlich je zu fassen zu kriegen.
Bei der Partynacht im Berghain am Tag darauf kommt dann tatsächlich alles zusammen. Während Vril und Ateq den Berghain-Floor mit hartem Techno beschallen, verlieren sich Edward, Kettenkarussell und Leafar Legov in verspielt-tanzbaren Live-Sets. Mit einem sphärischen, experimentellen DJ-Set liefert DJ Dustin noch einmal einen hochemotionalen Querschnitt durch die ganze musikalische Bandbreite von Giegling und lässt die Tour vor dem inneren Auge vorüberziehen. Über dem Treppenaufgang zum Berghain weht ein silbrig glänzender Kronleuchter aus Alupapier im Windstoß der Lüftungsanlage. Es gibt wohl kaum ein Label, das im Berghain einen all-nighter auf zwei Floors spielen und zu allem Überfluss auch noch den streng konzipierten Raum umgestalten darf. Für Giegling scheinen eben andere Regeln zu gelten.
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