Wie lange wir schon auf der Straße mit dem gelben Mittelstreifen vorwärts rollen, kann ich nur schätzen: sechs Stunden, sieben, vielleicht auch neun? Gefühlt eine Unendlichkeit. Aber inmitten der ausgedehnten Seen, weiten Steppen und vergletscherten Berge sind Stunden und Minuten ohnehin relativ. Hier zählt nur der Raum, der sich vor uns öffnet. „Wer durch Patagonien hetzt, verliert seine Zeit", sagt unser Guide und Fahrer Jorge Lepio und klingt dabei wie ein südamerikanischer Konfuzius. Jorge, schütteres Haar und weites Ranger-Hemd, arbeitet seit mehr als elf Jahren im Tourismus und legt einen heiligen Ernst in die Stimme, als er über seine Heimat sagt: „An diesem Ort kannst du dich selbst sehen, ohne in den Spiegel zu blicken."
Anfang 2018 wurde hier ein neues Nationalparksystem mit gewaltigen Dimensionen etabliert: Über 2800 Kilometer zieht sich die Ruta de los Parques über den schmalen, von Seen und Fjorden zerfransten Landstreifen zwischen Anden und Pazifik. Von den Wäldern in Chiles Mitte bis nach Feuerland an der Südspitze reihen sich entlang der Fernstraße Carretera Austral und weiter in den Süden 17 Nationalparks aneinander. Der chilenische Teil Patagoniens steht damit nahezu komplett unter Naturschutz. Die Parks erstrecken sich über 115 500 Quadratkilometer - eine Fläche fast dreimal so groß wie die Schweiz.
Wir sind von Santiago de Chile nach Balmaceda in der Region Aysén geflogen, nun fahren wir die letzten 300 Kilometer mit dem Auto nach Süden, zum Parque Nacional Patagonia. Mit einer Fläche von gut 3000 Quadratkilometern ist er relativ klein, bildet jedoch das Herzstück der Nationalpark-Route und verbindet die Schutzgebiete in Nord und Süd.
Deren Geschlossenheit verdankt Chile seiner früheren Präsidentin Michelle Bachelet. Sie unterzeichnete noch in ihren letzten Amtstagen im Januar 2018 ein Dekret, mit dem fünf neue Nationalparks gegründet und bestehende Reservate erweitert wurden. Auf der Parkroute können Backpacker, Wanderer und Radfahrer nun wochenlang durchs Land ziehen, ohne dass sie die Parkgebiete verlassen müssen. Vielen Menschen werden sie dabei nicht begegnen, das Verhältnis von Bewohnern zu Quadratkilometern beträgt in Patagonien etwa zwei zu eins. Wer hier unterwegs ist, muss Einsamkeit aushalten können, Stille, Leere. Und Auto oder mindestens Fahrrad empfehlen sich schon wegen der enormen Distanzen bis zur nächsten Lodge oder zu einem der Campingplätze.
Auf unserer Fahrt halten wir immer wieder an, steigen aus, wandern umher. Wir sehen verkohlte, bemooste Baumstümpfe, aus denen kleine Zweige sprießen, und knorrige Büsche, in denen runde, stachelige Früchte hängen. Mancherorts riecht es durchdringend - nach Stinktier. Durch das Land schlängeln sich Rinnsale und Bäche, braun gefärbt von Laub und Holz, die sich darin zersetzen. Reiche Erde - heute. „Vor Jahren war hier alles abgeholzt und abgeweidet", sagt Jorge und streicht mit der Hand über Grashalme, die ihm bis zur Hüfte reichen.
Unterwegs kommt der 31-Jährige wieder ins Erzählen: wie sich Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Siedler aus Nordamerika und Europa in der Region niederließen; wie Viehzüchter für ihr Weideland die letzten nichttropischen Regenwälder niederbrannten und Sägewerke sie für Papier und Zellulose zerkleinerten; wie nach dem Anschluss an die Fernstraße Bergbaufirmen den Fels der umliegenden Gebirge wegsprengten, um Kupfer, Zink und Gold zu fördern, und wie Lachsfarmer Futterabfälle in die Fjorde kippten.
Für Patagoniens Renaissance sorgte außer Michelle Bachelet vor allem die Tompkins Conservation - eine Stiftung aus den USA, die für den Erhalt von Ökosystemen kämpft, ins Leben gerufen von dem 2015 verstorbenen Multimillionär Douglas Tompkins und seiner Frau Kristine. Der Mitgründer der Modemarke Esprit verkaufte vor fast 30 Jahren seine Firmenanteile und erwarb zusammen mit seiner Frau, der langjährigen Geschäftsführerin des Outdoor-Labels Patagonia, für Hunderte Millionen Dollar aus Privatvermögen und Spenden Ländereien in Chile und Argentinien, die sie nach und nach der Regierung übergaben. „Will man ein Ökosystem bewahren, kann das Schutzgebiet gar nicht groß genug sein", sagt Kristine Tompkins.
Allein in den Parque Patagonia steckten die beiden 65 Millionen Dollar. Sie erwarben Farmen, verkauften Rinder und Schafe, ließen Tausende Kilometer Zäune und Stacheldraht entfernen und statt fremder wieder heimische Gewächse pflanzen. Heute ist die Region ein Trekking-Paradies, lange nicht so überlaufen wie der berühmte Nationalpark Torres del Paine. Unser Ziel ist das Chacabuco-Tal: Hier mischt sich der Nef, von den Gletschern im Norden kommend, mit den Flüssen Chacabuco und Cochrane und bildet ein eisig blaues Bassin, das von gewaltigen Granitschluchten geschützt wird.
Quartier beziehen wir im Park-Zentrum, einer aus dem örtlichen Gestein erbauten Lodge. Wie auf dem gesamten Areal werden Strom und Warmwasser mit Solarenergie erzeugt. Das Fleisch im Restaurant stammt von Vieh aus den umliegenden Tälern, der Wein ist aus der Region, Gemüse wird selbst angebaut. Zwei Kilometer hinter den Gewächshäusern liegt auf einer Wiese einer von drei Campingplätzen. Wer dort zeltet, bekommt tagsüber Gesellschaft von Guanakos, wild lebenden Verwandten der Lamas, die unter den hohen Pappeln Schatten suchen.
Tags darauf erkunden wir einen der sechs Wanderpfade. Wir steigen auf ein Hochplateau, das den Blick freigibt auf einen Gipfel, der nach der Mitbegründerin des Parks benannt wurde: den Cerro Kristine. Der Weg führt durch eine malerische Hügellandschaft. Zwischen Pappeln blühen Calafates, eine Berberitzenart, und das Heidekraut Chaura, Notro-Feuerbüsche, Stechwinden, Porzellanorchideen und Neneo-Sträucher. Unten in der Pampa dominiert gelbes Coiron-Gras, das die paar windschiefen Holzhütten fast überwuchert. Auf dem Rückweg sehen wir Wiesen rot und grün aufblühen, mit Feuchtigkeit versorgt aus kurzlebigen, von Andenbächen gebildeten Seen.
Auch die Fauna wartet mit der größten Artenvielfalt der Region auf: Guanakos, durch die Weidewirtschaft fast verdrängt, breiten sich erneut aus. Pumas, lange gejagt, streifen wieder unbehelligt durchs Gebirge. In flachen Seen staksen Flamingos herum, handtellergroße Schmetterlinge in Orange und Lila flattern umher, am Himmel kreisen Kondore und Schwäne mit schwarzen Hälsen. Selbst der Huemul, ein seltener Andenhirsch und Chiles Wappentier - zeitweise soll es im ganzen Land nur noch ein paar Dutzend Exemplare gegeben haben -, fühlt sich in den Wäldern wieder heimisch. Auch wir bekommen ihn zu Gesicht: wenige Meter vor unserem Autofenster, zwischen den Bäumen. „Ein Weibchen, trächtig", flüstert Jorge. „Haben wir ein Glück!"
Bei den Einheimischen kam das Engagement der Tompkins zunächst gar nicht gut an: Als die Farmen aufgegeben wurden, verloren viele Arbeiter ihre Jobs. Beim Aufbau des Parks habe man nur Helfer aus dem Ausland angeheuert, hieß es, die Angestellten der Lodge kämen allesamt aus dem Norden Chiles, und die Zimmer seien für die Menschen aus der Region ohnehin unbezahlbar. Selbst Jorge räumt ein: „Die Tompkins waren kompromisslos bei der Umsetzung ihres Plans - vielleicht nicht der beste Weg." Eine Tatsache aber beruhigt ihn: Die Landspende ist an die Bedingung geknüpft, dass die Regierung das Gebiet schützt. Würde es wirtschaftlichen Interessen unterworfen, fiele es zurück an die Stiftung. Inzwischen verstünden auch immer mehr Einheimische, dass der Park allen nützt, nicht nur reichen Gringos. Kämen sie selbst in die Täler von Chacabuco, würden sie staunen über Fauna und Flora. „Die Chilenen erkennen den Mehrwert von Nationalparks", sagt Jorge, auch finanziell: Die Ruta de los Parques, schätzt man, könnte einmal rund 40 000 Arbeitsplätze schaffen und jährlich rund 270 Millionen Dollar einbringen. „Wir müssen nur darauf achten, dass der Tourismus nachhaltig ist."
Zu guter Letzt wollen wir Patagoniens Pracht und Weite noch einmal selbst erleben. Wir wandern zum Mirador Douglas Tompkins hinauf, sechs steinige, steile und schweißtreibende Kilometer. Am Aussichtspunkt, auf 500 Meter Höhe, lassen wir uns ins gelbe Gras fallen. Für einen Moment glauben wir, über den Horizont hinaus blicken zu können. Vor uns der tiefblaue Lago Cochrane, die Isla Victor in seiner Mitte, die schneebedeckten Flanken von Patagoniens zweithöchstem Berg, dem Cerro San Lorenzo. Direkt dahinter liegt Argentinien. Dort will Kristine Tompkins weitermachen und der Natur zu ihrem Recht verhelfen.
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