Laslo Seyda

Freier Journalist, Hamburg

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Reportage

Im Reich der Feuerflüsse

Vulkane sind eine unberechenbare Macht, gespeist von Kräften aus dem Erdinnern. Am Hawaiian Volcano Observatory gehen Forscher den Geheimnissen der Giganten auf den Grund. WUNDERWELT WISSEN erkundet vor Ort, warum es dafür weltweit kaum eine bessere Stelle gibt.

Letzte Nacht ließ Pele ihrer Wut freien Lauf. Sie fauchte, spuckte, ließ so richtig Dampf ab, ganz ohne Vorwarnung. Auch Jeff Sutton bekam das zu spüren. Der hagere Mann mit dem Schnauzbart und dem gebückten Gang sieht müde aus an diesem Tag im September 2016, sein Handschlag ist hastig. „Wenn Pele tobt, darf man keine Zeit verlieren.“ Sutton ist Geochemiker am Hawaiian Volcano Observatory, kurz HVO, einem der ältesten Vulkanobservatorien der Welt. Das Institut liegt auf Hawaii, dem größten und jüngsten Eiland der gleichnamigen Inselgruppe, direkt am Krater des Kilauea. Darin soll sie wohnen, die Feuergöttin Pele. In der Nacht hängt ein unheilvolles Glühen über dem Loch. Manchmal, so heißt es, zeige sich Pele in den Feuern des Lavasees. Heute um 4.25 Uhr hat sie die Erde zum Beben gebracht, mit einem Wert von 4,0 auf der Richterskala. Gar nicht ohne. Für Sutton und viele andere Wissenschaftler beweist das wieder einmal: Sie sind am richtigen Ort. Wer etwas über die enormen Kräfte lernen will, die das Antlitz der Erde tagtäglich formen, ist hier an der richtigen Stelle gelandet.

Der Grund: Die Feuerberge von Hawaii zählen zu den aktivsten Vulkanen weltweit. Seit 1983 fließt die Lava des Kilauea ununterbrochen. Über 65 Quadratkilometer Land hat sie unter sich begraben – Urwald, Strände und Hunderte Häuser. Auch der Mauna Loa, der größte aktive Vulkan der Erde, rumort in jüngster Zeit wieder verstärkt, 2015 wurde die Gefahrenstufe von grün auf gelb gesetzt. Und seit dem Sommer 2016 ist ein deutlicher Anstieg der Aktivität zu verzeichnen: Allein im August ist die Insel Hawaii durch erkaltende Erdmasse an der Küste um acht Hektar gewachsen. Um die Sicherheit der Bewohner zu gewährleisten, braucht es die Forscher des HVO. Sie sind die Wächter der Vulkane.

Jeff Sutton steht auf dem Parkplatz vor dem Labor und schnallt einen Kunststoffkoffer auf das Dach seines dunkelgrünen Jeeps. Rauchschwaden steigen am Rand des Kraters empor, es riecht nach faulen Eiern. Der Koffer ist eines von vielen Spektrometern, mit denen der Forscher die Gase einfangen will, die seit vergangener Nacht austreten. „Bei der Fahrt werden die Gase in die Glaskolben im Koffer geleitet. Die Lösung darin bindet die flüchtigen Stoffe für die spätere Untersuchung. Sind bestimmte Edelgase enthalten, kann das auf einen Ausbruch deuten.“

Sutton arbeitet seit 1993 am HVO. Seine Faszination für Vulkane entdeckte er 1980, als der Mount St. Helens im US-Bundesstaat Washington seine Spitze wegsprengte. „Der Ausbruch hat damals alle überrascht, auch einige Geologen kamen ums Leben. Auf einmal stieg das öffentliche Interesse, und es wurden Fachleute gesucht.“ Seitdem erforscht Sutton Vulkane in Alaska, Indonesien, Neuseeland, den Marianen, Japan und Italien.

Jetzt steuert der Wissenschaftler sein Fahrzeug hinunter zur Küste. Dorthin, wo sich die Lava des Kilauea in den Ozean ergießt. Knapp 40 Minuten dauert die Fahrt. Die Straße führt um den riesigen Hauptkrater, dann durch dichte grüne Wälder und in Serpentinen hinab bis zu einer Wüste aus schwarzem Stein. Sein Ziel: die Wolken, die an den Klippen der Insel aufsteigen. „Die direkte Entnahme von Proben in den aktiven Gebieten ist zwar die gefährlichste Methode, aber auch die genaueste.“

Sutton interessiert sich besonders für den Anteil an Schwefeldioxid in den Gaswolken. Der „Vog“, vulkanischer Smog, beißt in den Augen, reizt die Atemwege. Noch bedrohlicher sind die Verpuffungen. Wenn über 1000 Grad heiße Lava auf etwa 25 Grad kaltes Ozeanwasser trifft, ist die Hölle los. Dann füllt hochgiftiger Fluorwasserstoff die Luft, und es entstehen Massen feinster messerscharfer Gesteinsfäden. Sie schneiden sich in Augen und Lunge. Ist die Gefahr zu groß, wird ein Gebiet abgesperrt. Eine Warnung des HVO hat hier Gewicht.

DIE JÜNGER DER FEUERGÖTTIN
Gegründet wurde das Hawaiian Volcano Observatory im Jahr 1912, nachdem der Geologe Thomas A. Jaggar Zeuge eines verheerenden Vulkanausbruchs geworden war: Zehn Jahre zuvor hatte eine Glutwolke die Stadt Saint-Pierre auf der Insel Martinique zerstört, 28.000 Menschen wurden dabei buchstäblich pulverisiert. Nie wieder sollte es zu so einer Katastrophe kommen, schwor sich Jaggar. Seitdem hat sich seine Einrichtung zu einem der angesehensten Forschungslabors der USA entwickelt, mit internationaler Bedeutung.

Seit 1990 wurden im Volcano Disaster Assistance Program (VDAP) über 200 Experten aus knapp 30 Ländern von ihren hawaiianischen Kollegen im Umgang mit giftigen Gasen und heißen Gesteinsbrocken geschult – und auch in der Kommunikation zwischen Katastrophenhelfern, Regierungsvertretern und Öffentlichkeit. Es wurde ein 3519 Meter tiefes Loch in den Boden gebohrt, um den Hotspot zu untersuchen. Forscher vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam sammeln dort Proben von Lava, die 500.000 Jahre alt ist. Und alle paar Jahre kommen Forscher auf Hawaii zusammen und packen ihre Instrumente aus: Mit Seismografen zeichnen sie Erdstöße auf, mit Infraschallsensoren messen sie Druckwellen in der Luft, und mit Infrarotkameras suchen sie unterirdische Lavatunnel. Dann wird analysiert, gesammelt und debattiert.

„Hawaii bietet ideale Bedingungen. Die Vulkane sind ständig aktiv, leicht zugänglich und relativ ungefährlich“, sagt Jim Kauahikaua. „Durch den ständigen Lavafluss wird der Druck im Vulkan regelmäßig abgebaut. Und weil die Lava auf Hawaii einen geringen Siliziumanteil hat, entweichen die Gase, anders als beim Stromboli oder beim Ätna in Italien, ohne Explosion.“ Glühende Klumpen, die durch die Luft geschleudert werden, gibt es daher kaum. Jim Kauahikaua, Pferdeschwanz und krauser grauer Bart, war bis März 2015 Forschungsleiter des HVO. Lava ist sein Lieblingsthema. In einen olivfarbenen Overall, dicke Handschuhe, Stiefel und eine Skimaske gehüllt, steht der Geophysiker in der Mondlandschaft am Ozean. Der Lavastrom mit der Kennung 61G hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Kauahikaua hackt mit einem Eispickel die schwarze Kruste auf, zieht glühende breiige Masse aus dem Loch und lässt sie in einen Eimer mit Wasser fallen. Es zischt und dampft. „Wenn die Lava abgekühlt ist, können wir ihre Zusammensetzung und die ungefähre Temperatur messen, die sie im flüssigen Zustand hatte.“

Gern würde Kauahikaua unter die Erdkruste schlüpfen, um direkt dort seine Daten zu nehmen. Stattdessen berechnet er mithilfe der Höhenangaben in topografischen Karten, wohin ein Lavastrom wahrscheinlich fließen wird. Aber: „Es ist unmöglich vorherzusagen, wie schnell ein solcher Strom einen Ort erreicht.“ Im Jahr 1990 begrub die Lava des Kilauea einen Ort im Südosten der Insel unter sich. Im Juni 2014 drohte ein Strom, die Kleinstadt Pahoa zu vernichten. Am Rand der Siedlung stoppte er. „Niemand von uns hätte das für möglich gehalten“, sagt Kauahikaua. Eine unberechenbare Walze aus Feuer.

Ein wichtiger Anhaltspunkt bei der Bestimmung der Lavaaktivität ist die Deformation des Bodens, die mit Entfernungsmessern und GPS Geräten festgehalten wird. Vor einem Ausbruch blähen sich Vulkane auf, holen quasi tief Luft. Durch die erhöhte Hangneigung steigt auch der Druck im Fördersystem des Vulkans, die Magmakammern dehnen sich aus. „Vor 2008 gab es nur fünf bis zehn solcher Deformationen pro Jahr. Seitdem der Kilauea aktiv ist, sind es im Schnitt rund 60. Warum, wissen wir nicht. Wir kratzen mit unserem Wissen nur an der Oberfläche.“

„DAS RISIKO IST ENORM“
„Irgendwann wird der Kilauea mehr verursachen als nur Erdbeben“, sagt Don Swanson und fängt wie wild an zu schütteln. Zwischen seinen Händen hält er ein halbes Dutzend Metallsiebe, aufeinander gestapelt zu einem Turm. Es raschelt und klimpert, als er den Turm vor und zurück, nach links und rechts ruckelt. Fast fällt Swanson dabei seine goldgerahmte Brille vom Kopf. „Besser als jede Maschine“, sagt er, die Wangen rot, und lacht. Gerade ist er von zurückgekehrt in sein Labor im HVO. Jeden Morgen fährt Swanson die Insel ab und sammelt die Asche aus den alten Farbeimern, die er überall verteilt hat. Nachdem er sie zurückgebracht und in seinem Metallturm durchgesiebt hat, untersucht er die Proben unter dem Mikroskop, datiert und kategorisiert sie.

„Jede von Hawaiis Inseln hat ihre Besonderheiten. Durch die verschieden großen Aschestücke können wir ermitteln, wie hoch sie in die Luft geschleudert und wie weit sie vom Wind getragen wurden und wo genau der Eruptionsort liegt. Manchmal können wir so auch einen Vulkanausbruch nachweisen, der lange vor unseren Aufzeichnungen stattgefunden hat.“ Detektivarbeit mit Steinen. Über 2500 Jahre alt sind manche der Stein- und Ascheproben, die Swanson über die Jahre vom Kilauea gesammelt hat. Aus ihnen hat er geschlossen, dass der Vulkan in 60 Prozent dieses Zeitraums aktiv war. Eine alarmierende Zahl. Denn wann die nächste explosive Phase vielleicht auch in zehn. Swansons Methode allein ist nicht aussagekräftig. Erst mit den Ergebnissen anderer Forschungsbereiche ergeben sich genügend Daten, um relevante Vorhersagen über das Verhalten eines Vulkans zu treffen. Fest steht aber: „Das Risiko ist enorm.“

„Der Ausbruch eines Vulkans lässt sich heute zu 80 Prozent vorhersagen“, sagt Jeff Sutton. „Aber manches ist uns noch immer ein Rätsel.“ Wie hängen Erdbeben und der Ausstoß von Gas zusammen? Versiegt der Kilauea, oder steht ein großer Ausbruch bevor? Und würde der das globale Klima verändern? Vor allem die Verbindung zum Erdkern ist den Forschern ein Rätsel. „Wir stellen uns vor, dass das Magma Hunderte Kilometer in die Höhe gedrückt wird, bevor es aus der Erde tritt. Genau wissen wir das aber nicht.“

Im Januar 2017 geschieht, was keiner der Forscher vorhersagen konnte. Auf Hawaii öffnet sich eine Vulkanflanke. Ein zwei Meter breiter Lavastrom schießt in den Ozean, rot wie Blut. Die Küste kocht. Das Meer brennt. Gut 30 Kilometer vor der Insel kündigt sich noch Größeres an. Dort wird der Vulkan Loihi aus dem Meer auftauchen. Nur noch knapp 1000 Meter fehlen ihm bis zum Meeresspiegeldurchbruch. „Neues Land, aus der Tiefe der Erde“, sagt Jeff Sutton über seine Faszination, mit glänzenden Augen. „Ursprünglicher geht es nicht.“