Das Nördliche Breitmaulnashorn ist so gut wie ausgestorben. Weltweit gibt es nur noch drei Exemplare. Einige deutsche Forscher und Wissenschaftler versuchen, die Spezies doch noch zu retten.
Mit einer Taschenlampe weist Armin Püttger-Conradt den Weg durch den dunklen Flur. Schwere Decken hängen vor den einfach verglasten Fenstern. Hinter der Treppe, in einem engen Korridor, deutet er mit dem Lichtkegel auf die Bilderrahmen. Eine Galerie mit Fotos und selbst erstellten Infotafeln. Rüdiger Nehberg ist zu sehen, Carl Rathjens, Wilhelm Möller, dazu Boris Culik, Sophie Wörishöffer und viele mehr. Alle aus Schleswig-Holstein, wie der Hausherr. Forscher, Entdecker, Literaten, allesamt Kämpfer für die Natur. Ein Rahmen, ganz rechts, ist noch frei. "Den habe ich für mich reserviert."
Auch Püttger-Conradt kämpft. Seit über dreißig Jahren versucht er, die Nördlichen Breitmaulnashörner vor dem Aussterben zu retten. Der Bulle Sudan und die Weibchen Najin und Fatu sind die drei letzten Exemplare ihrer Art. Sie sind zu Symbolen geworden. Für die Habgier der Menschen. Für die Ignoranz der Politik. Und für das Versagen des Artenschutzes.
Die Nashörner leben im Wildreservat Ol Pejeta, gut drei Stunden nördlich von Nairobi, auf einem kahlen Stück Savanne, keine sechs Quadratkilometer groß, mit nichts als Sand und Staub und ein paar vertrockneten Grashalmen. Sie sind umgeben von Starkstromzäunen und Wachtürmen, von Scheinwerfern und Videokameras, Nachtsichtgeräten und automatischen Waffen. Dorthin, wo das saftige Grün von Ostafrika wuchert, zu den Ausläufern des Aberdare-Gebirges und dem Fuß des schneebedeckten Mount Kenia, dürfen sie nicht. Die Freiheit wäre tödlich für sie.
Vor 35.000 Jahren wurde das Nördliche Breitmaulnashorn durch die Ausbreitung der Kongo-Urwälder von seinen südlichen Artgenossen getrennt. Als der Brite Percy Powell-Cotton im Jahr 1900 erstmals auf die Tiere stieß, weideten sie noch zu Tausenden in Zentralafrika, ihr hellgrauer Panzer schimmerte weiß in der Sonne der Savanne. Aber mit den Entdeckern kamen die Großwildjäger. Und der Tod. Um die gefährdeten Bestände zu schützen, gründete die belgische Kolonialregierung im Kongo 1938 den Garamba Nationalpark.
Lange glaubte man die Tiere in Sicherheit. Bis Anfang der 1980er Jahre Rebellen aus dem Südsudan in den Nationalpark eindrangen. In Jeeps jagten sie die Tiere über die Steppe, durchlöcherten sie mit den Bordgeschützen ihrer Kampfflugzeuge oder sprengten sie mit Handgranaten in die Luft. Die Beute, das wertvolle Horn, tauschten sie gegen Waffen und Munition für den Kampf gegen den arabischen Norden.
Armin Püttger-Conradt war der Erste, der auf die dramatische Situation der Nördlichen Breitmaulnashörner aufmerksam machte. Ihr Erbe verwaltet der gebürtige Elmshorner in seinem verwitterten Fachwerkhaus im Wendland, in einem Raum hinter der Küche. Wände, bis unter die Decke zugestellt mit Diakästen. Büchertürme, sortiert nach Ländern und Kontinenten. Regale mit schiefen Brettern, vollgestopft mit ganzen Jahrgängen an Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen. Auf dem Schreibtisch liegen vollgekritzelte Notizzettel, ein Fernglas, eine Packung Zigarillos, daneben steht eine japanische Teekanne aus Porzellan.
Püttger-Conradt zeigt die vergilbten Zeitungsartikel und Fotos, die er auf dem Fußboden ausgebreitet hat. Im Jahr 1981 paddelt der 23jährige Student den Kongostrom entlang. Im Auftrag eines Forschungsmuseums soll er Schnecken, Frösche und Echsen sammeln. 4.000 Kilometer legt er im Einbaum zurück. Bei einem Abstecher stößt er auf die Spuren des Massakers im Garamba Nationalpark. "Die Nashörner lagen aufgedunsen in der Savanne, ihre Beine ragten in den Himmel", schreibt er später auf. "Hunderte Kadaver, die unter afrikanischer Sonne verrotteten."
Zurück in Deutschland informiert er die großen Umweltorganisationen. Niemand will ihm glauben. informiert Püttger-Conradt die großen Umweltorganisationen. Niemand will ihm glauben. "Der WWF hat zuerst gar nicht auf mein Schreiben reagiert. Alles Schreibtischtäter, die gern mal bezahlten Urlaub in Afrika machen." Erst der berühmte Tierfilmer Bernhard Grzimek antwortet auf den Hilferuf. Grzimek, damals Präsident der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF), lässt die Beobachtungen von Kollegen aus Tansania prüfen. "Wo ich über vierzig Tiere gezählt habe, fand er nur noch fünfundzwanzig", sagt Püttger-Conradt. Die Zoologische Gesellschaft reagiert sofort, schiebt mit der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN eine Rettungsaktion an.
Für Armin Püttger-Conradt wird der Erhalt der Nördlichen Breitmaulnashörner zur Lebensaufgabe. Mit Freunden gründet er einen Verein, sammelt Spenden und Hilfsgüter. Als 27-Jähriger kehrt er zurück in den Nationalpark, steht fortan als Wissenschaftler bei den örtlichen Behörden unter Vertrag. Der Jungbiologe folgt den Rhinos durch den Busch, studiert sie, gibt ihnen Namen und erstellt Identifikationskarten mit der Form ihrer Hörner. Von den Wildhütern, die ihn begleiten, lernt er Lingala, die Sprache der Einheimischen. Er hört die Mythen der "Kenge", wie die Nashörner hier heißen, und von den Mutproben, bei denen Halbstarke den schlafenden Giganten Steine auf den Rücken legen. Insgesamt neun Jahre lebt Armin Püttger-Conradt mit den Nashörnern, pendelt zwischen Afrika und Deutschland, schreibt Bücher, hält Tausende Vorträge. Seine Fotos und Aufzeichnungen haben fast schon naturhistorischen Wert. Immer wieder muss er Wilderer in die Flucht schlagen.
Aber der Kampf, den er bis heute führt, ist ein aussichtsloser: Mit neuen politischen Unruhen im Sudan, dem Kongo und Ruanda, mit dem Kampf um Öl und Coltan geht das Töten der Nashörner weiter. Die kongolesische Regierung weigert sich, die verbliebenen Nashörner an einen sicheren Ort umzusiedeln. Zoos und Wildparks sträuben sich zunächst, ihre Zuschauerattraktionen für Zuchtprogramme zu verleihen. Die britische Organisation Flora Fauna International erklärt das Nördliche Breitmaulnashorn sogar zum "Ökotyp", einer unwichtigen Subspezies. Anstatt zu handeln, wird diskutiert. Reden statt retten. "Wir mussten zusehen, wie die Tiere in freier Wildbahn aussterben", sagt Püttger-Conradt und schweigt.
Die Zukunft der Kenge liegt in Berlin-Friedrichsfelde, in einem unauffälligen dreigeschossigen Bau mit hohem Gitterzaun und weißer Fassade. "Vielleicht können wir die Nashörner künftig auch im Reagenzglas retten", hofft Tierarzt Thomas Hildebrandt. Hildebrandt, 52, groß, unaufgeregte Stimme, angegraute Haare, ist Leiter der Forschungsgruppe Reproduktionsmanagement am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung, kurz IZW. Weltweit gilt er als einer der führenden Spezialisten für künstliche Fortpflanzung. In seinem Büro, zwischen Laptop, Telefon, Aktenordnern und den in Behördenbraun gehaltenen Möbeln, thronen Büffelschädel, daneben eine Skulptur von Elefanten, die sich begatten. Draußen auf dem Gang, in einer Vitrine, liegt das Modell eines Genitaltrakts, so lang wie ein Arm.
Anfang des Jahrtausends ist das IZW beauftragt worden, sechs Nördliche Breitmaulnashörner im tschechischen Zoo Dvůr Králové zu untersuchen und bei der Familienplanung zu helfen. Alle Besamungsversuche scheitern, in der Gefangenschaft können sich die Tiere, darunter auch Sudan und Najin, einfach nicht fortpflanzen. Selbst ihre Umsiedlung nach Ol Pejeta im Jahr 2009 bringt keinen Erfolg. Und der Vorrat an brauchbarem Erbgut ist begrenzt. "Eigentlich hatten wir die Art abgeschrieben", so Hildebrandt.
Seitdem hat sich einiges getan. Auf einer Konferenz im Dezember 2015 gibt das Team des IZW mit anderen internationalen Wissenschaftlern bekannt, dass sie das Nördliche Breitmaulnashorn mithilfe einer neuen Technologie retten könnten: In einem speziellen Verfahren wollen sie den Tieren Hautzellen entnehmen, diese in Spermien oder Eizellen umwandeln und als Embryonen in Südliche Breitmaulnashörner einpflanzen. Bei Mäusen ist das bereits gelungen.
Hildebrandt ist begeistert: "Alle Foscher haben sofort Feuer gefangen. Japanische Stammzellenforscher, südafrikanische Tierärzte, italienische Spezialisten für Embryonentransfer und amerikanische Fachleute für Kryotechnologie: Jeder will seinen Teil zur Rettung der Nashörner beitragen und bringt eigene Ressourcen mit ein." Die Grundlage für die zukünftige Arbeit bilden die Spermien von zwölf Nördlichen Breitmaulnashörnern, die der Berliner Tierarzt über die Jahre gesammelt hat und von denen sieben im IZW auf Eis liegen. Sie lagern in einem Raum mit zugezogenen Jalousien, in hüfthohen Aluminiumbehältern und flüssigem Stickstoff. Weißer Nebel wabert über die Fassung des Deckels, als Hildebrandt eine metallene Schale mit kleinen bunten Fächern aus einem der Tanks zieht. In ihnen befinden sich die Proben. "Damit die Spermazellen den Prozess des Einfrierens überleben, haben wir eine eigene Methode entwickelt. Beim Abkühlen auf minus 196 Grad lassen wir die Samenflüssigkeit mit einer Zentrifuge rotieren. Anstatt schockgefrostet und von Eiskristallen zerstört zu werden, kühlt das Sperma so stufenweise ab, und die Hälfte der Proben bleibt erhalten. Für 3000 Jahre."
Warum der ganze Aufwand? Warum ist das Nördliche Breitmaulnashorn so wichtig? "Wir brauchen jede einzelne Tierart, um das komplexe Gefüge der Natur intakt zu halten." Inzwischen habe man herausgefunden, dass sich die DNA der Nördlichen Breitmaulnashörner um fast vier Prozent vom Erbgut ihrer südlichen Verwandten unterscheidet. Klingt nicht viel, ist aber so gravierend wie die genetische Differenz zwischen Mensch und Schimpanse. Man sehe es schon an den buschigen Ohren und ihrer speziellen Haut. Oder an den längeren Beinen und dem verformten Fußskelett. "Irgendwann könnten wir mit dem Wissen über ihre Eigenschaften Probleme der Menschheit lösen, von denen wir heute noch gar nichts wissen", glaubt Hildebrandt.
Im Oktober will er nach Kenia fliegen und die Eizellen von Najin und Fatu entnehmen, die er noch für seine Arbeit benötigt. Diese will er in einem Reagenzglas weiterzüchten, bis sie befruchtungsfähig sind, ihnen Spermien injizieren und dann einfrieren. Innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre wollen die Wissenschaftler einen Embryo in eine Leihmutter einpflanzen. "Unser Traum ist, dass Sudan, Najin oder Fatu sich noch einmal mit einem Kalb ihrer Art treffen."
Das würde sich auch Armin Püttger-Conradt wünschen. "Die Nashörner sind für mich wie eine Familie." Auch wenn er seinen Kampf vielleicht verloren hat, die Hoffnung hat der Biologe noch nicht aufgegeben. Er glaubt an eine eigenwillige Theorie, den sogenannten genetischen Flaschenhals: Wie der kalifornische Kondor oder der Tasmanische Teufel sei vor hundert Jahren auch fast das Südliche Breitmaulnashorn ausgestorben. Nur noch zwanzig Individuen habe es gegeben, die Nashörner seien durch ein Nadelöhr der Evolution gegangen – und haben es geschafft. "Ohne moderne Technologien, aus eigener Kraft. Heute sind es 20 000."
Sollte das Nördliche Breitmaulnashorn überleben, wäre das auch das Verdienst von Armin Püttger-Conradt. Den freien Platz in seiner Galerie der Großen hätte er sich dann mehr als verdient.
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