Fred John Philip Gibson versteht was von klassischem Popsongwriting. Für Meister wie Brian Eno, für Popstars wie Charli XCX und Ed Sheeran, die K-Pop-Überflieger BTS und den Grime-MC Stormzy Musik hat der Brite schon Musik geschrieben. Mit den ersten Lockdowns allerdings wechselte Gibson vom Studio ins Rampenlicht: Unter dem Namen Fred Again begann er seine Solokarriere. Auf mittlerweile drei Alben hat er auf Grundlage von Instagram-Videos und Sprachnachrichten Musik veröffentlicht, dafür kurze Gesangsparts und Aussagen gesampelt und diese in einen gleichermaßen energetischen wie melancholischen Dance-Sound eingefriedet.
Zum Star ist Fred Again nicht allein deswegen geworden, weil sein Sound einen Nerv trifft und er eine gut geölte Marketingmaschinerie hinter sich weiß. Vielmehr noch ist er beliebt, weil er uneingeschränkt nahbar wirkt. Seine drei bisher veröffentlichten Alben heißen alle Actual Life, das tatsächliche Leben, sind durchnummeriert und entsprechend ihrer Entstehungszeit datiert. Zuletzt erschien sein erneut sehr funktional betiteltes Album Actual Life 3 (January 1 - September 9 2022). Fred Again macht Musik, wie andere ihre Social-Media-Profile kuratieren. Man könnte auch sagen: Seine Vorgehensweise entspricht dem Nutzungsverhalten seiner Fans auf , diesem unüberblickbaren Ort, an dem die Inhalte anderer Menschen immer nur die Grundlage für den eigenen Selbstausdruck sind.
TikTok hat eine allumfassende Remixkultur ausgeprägt, auf der alles nach der Logik des Memes behandelt wird. Ob Filmzitate, kurze Videoausschnitte oder eben Songpassagen: Jeder noch so kleine Fitzel wird in andere Kontexte verpflanzt, mit eigenen Kommentaren versehen und so mit neuem Sinn erfüllt. Mittlerweile nutzen mehr als eine Milliarde Menschen pro Monat TikTok, die App generiert mehr Traffic als Google, Facebook, YouTube oder sonst irgendeine Plattform dieser Welt.
Der rasante Aufstieg von TikTok ist auch darauf zurückzuführen, wie beliebt die App während der ersten Lockdowns war. TikTok bot seinem Publikum nicht nur kurzweilige Unterhaltung an, sondern erlaubte durch Funktionen wie Duet oder Stitch, die Inhalte anderer Menschen zu erweitern und zu kommentieren, sie also zu memefizieren. Die App versprach ihren Nutzern mediale, kreative Verbundenheit in sozialer Isolation, der Musikwelt wiederum eine Einnahmequelle: Drei Viertel der Nutzer sind unter 40 Jahre alt und fallen damit ins Beuteschema der Musikindustrie, gut 40 Prozent bezahlen überdies für den Zugang zum Streaming.
Mit dem Siegeszug von TikTok, der Videoplattform des chinesischen Unternehmens ByteDance, hat sich auch die Musik verändert. Die Rolle des Popstars wird neu definiert, parallel dazu entwickelt sich ein neuer Sound, der so aufgekratzt wie melancholisch klingt. Mehr noch: Mittlerweile bröckelt die Integrität des Songs. Die Art und Weise, wie heutzutage Lieder geschrieben werden, passt sich dem ewigen Flow von Videos an, die in der Regel zwischen 15 und 30 Sekunden lang sind.
Wie zentral Musik inmitten der ständigen Totalrekombinatorik von TikTok ist, zeigt allein ein Blick auf die Geschichte der App. Die Funktionsweise von TikTok ist die perfekte Synthese aus einem erprobten Empfehlungsalgorithmus und der Logik einer anderen Plattform, die TikTok sich im Jahr 2018 einverleibte: Musical.ly war ein besonders unter Teenagern beliebtes Videoportal, das den Nutzern erlaubte, zu Popsongs die Lippen zu bewegen oder dazu zu tanzen. Der Rapper Lil Nas X war der Erste, der das Potenzial dieses Prinzips verstand und für sich nutzte. Im Jahr 2019 machte er seinen Country-Rap Old Town Road zum Song mit der längsten Verweildauer an der Spitze der Billboard-Charts aller Zeiten, indem er alle mittanzen ließ.
Für Musiker und Unternehmen ist es nicht ohne Weiteres möglich, direkt Geld mit TikTok zu verdienen wie auf herkömmlichen Streamingplattformen. Die Auszahlmodalitäten für die Verwendung von Musik sind opak; zumindest darüber, dass dadurch zu wenig herumkommt, scheint in der Musikindustrie aber Konsens zu herrschen. Doch wann immer die Nutzer sich ihre Zeit damit vertrieben, zu Old Town Road zu singen, Walfängerlieder zu harmonisieren oder einem Skater zuzujubeln, der zu einem Fleetwood-Mac-Song mitsummt, trugen sie zum Erfolg von Musik außerhalb der App bei. Die Faustregel: Wer an einem Tag bei TikTok viral geht, dessen Spotify-Plays stehen am Morgen danach im neunstelligen Bereich. Dementsprechend lassen sich immer mehr Musiker in ihren Arbeitsprozessen von den Dynamiken der App inspirieren.
Auch Fred Again verwendet für seine Musik Methoden, die direkt von der Remixkultur auf TikTok und ähnlichen Plattformen inspiriert sind, und produziert dabei Musik, die wie auf die App zugeschneidert wirkt. Zur Wiederverwertungs- und Abänderungslogik von TikTok passt auch, dass jedes einzelne Stück von Fred Again nach der Person benannt ist, die ihm das Ausgangsmaterial dazu geliefert hat. Das lässt Titel wie Danielle (smile on my face) und Clara (the night is dark) gleichermaßen generisch und besonders klingen. Seinen Fans gibt es damit zudem ein simples, aber verheißungsvolles Versprechen: Vielleicht wird mein eigenes Video die Vorlage für den nächsten Remix von Fred Again, vielleicht werde ich der Star meines Stars! All das erzeugt eine Aura der absoluten Unmittelbarkeit. Alle dürfen daran teilhaben, wie Fred Again die Welt erlebt.
An einer der Vorabsingles seines neuen Albums Actual Life 3 (January 1 - September 9 2022) zeigt sich, wie tief sich diese Logik mittlerweile in die Machart der Musik eingeschrieben hat. Delilah (pull me out of this) bietet dank vager und doch bedeutungsschwerer Textinhalte großes Memepotenzial. Auch auf musikalischer Ebene scheint es mit dem Zweck arrangiert zu sein, vor allem in Form wiederverwertbarer Häppchen rezipiert zu werden. Keiner der einzelnen Teile des Stücks ist länger als eine halbe Minute, manche von ihnen sind durch deutliche Pausen voneinander getrennt. Jeder einzelne bietet einen unterschiedlichen musikalischen Fokus und eine andere Stimmung an. Damit gleicht ein Musikstück eher einer knapp vierminütigen Playlist, aus der sich Userinnen ihre präferierten Snippets für das nächste Video herauspicken können, als einem konventionell strukturierten Popsong.
Delilah (pull me out of this) nutzt überdies zwar dieselbe Formensprache wie Abertausende Dance-Stücke vor ihm, allerdings mit einer anderen Grammatik. Es ist wohl auch kein Zufall, dass sich der vormalige Pop- und Hip-Hop-Produzent Gibson als Fred Again ausgerechnet der Dance Music zugewandt hat. Das Genre ist einer Studie des Magazins Music Week zufolge ein Wachstumsmarkt. Spätestens seit jenen Lockdown-Zeiten, in denen niemand mehr im Club tanzen konnte, funktioniert es bestens auf Plattformen wie TikTok. Nun wird allerdings auch Dance den dort herrschenden Dynamiken und Konsumgeschwindigkeiten angepasst.
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