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Autismus, ADHS und Legasthenie im Beruf: Wie der Fachkräftemangel die Diversität in Unternehmen stärkt

Neurobiologische Besonderheiten wie Autismus oder ADHS sind erblich und angeboren. Auch wenn sie als Entwicklungsstörungen gelten, gehen sie oft auch mit Vorteilen und besonderen Fähigkeiten einher. © Quelle: RND

 Großraumbüros, Nebengeräusche, verschiedene Aufgaben gleichzeitig oder ein hohes Maß an eigenständiger Organisation - in vielen Berufen sind solche Arbeitsbedingungen alltäglich. Manche Menschen können solche Voraussetzungen aber so stark daran hindern, sich zu konzentrieren oder einen klaren Gedanken zu fassen, dass es für sie unmöglich wird, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Das trifft besonders auf Personen mit bestimmten, neurobiologischen Unterschieden zu - etwa Menschen mit Autismus, einer Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS), aber auch mit einer Lese- oder Rechenschwäche (Legasthenie und Dyskalkulie) oder Koordinationsstörungen (Dyspraxie). Betroffene gelten im Unterschied zur „neurotypischen" Mehrheitsgesellschaft als „neurodivers".


Lücken im Lebenslauf und längere Arbeitslosigkeit

Die Probleme, mit denen neurodiverse Menschen am Arbeitsplatz zu kämpfen haben, sind vielfältig. Da Menschen mit ADS oder Autismus Reize nicht filtern können, leiden sie etwa in großen Büros an Reizüberflutung. Weitere Probleme von Menschen mit ADS seien fehlende Organisation, ein Hang zu Prokrastination, aber auch emotionale Überreaktionen im Austausch mit Kollegen und Vorgesetzten, erklärt die Fachärztin für Psychotherapie Astrid Neuy-Lobkowicz, die auf ADS und ADHS spezialisiert ist. „ADS-ler können sich gut auf Dinge konzentrieren, die ihnen Spaß machen - langweilige Routinetätigkeiten fallen ihnen dagegen wahnsinnig schwer." Menschen mit Autismus kommen mit monotonen Aufgaben stattdessen sehr gut zurecht, brauchen aber oft längere Pausen, können Aufgaben nicht priorisieren oder haben Probleme mit der Kommunikation im Team.


Die Folge für Betroffene sind oft lückenhafte Lebensläufe, Kündigungen während der Probezeit oder langjährige Arbeitslosigkeit - häufig auch trotz einer guten Ausbildung. Dabei bedeuten Autismus, ADHS oder Legasthenie nicht automatisch, dass jemand eine Tätigkeit nicht oder weniger gut ausüben kann als ein neurotypischer Mensch. Betroffene bräuchten stattdessen andere Arbeitsbedingungen, die auf ihre Bedürfnisse angepasst sind, betont Neuy-Lobkowicz. Die neurobiologischen Besonderheiten seien zum großen Anteil erblich. „Sie sind deshalb nicht ausgestorben, weil sie auch viele positive Eigenschaften mit sich bringen", sagt die ADHS-Expertin. „Ich sage immer, jede Firma braucht auch ADS-ler." Zu ihren Stärken gehöre etwa, dass sie sich schnell auf neue Herausforderungen einstellen, kreativ denken und originelle Impulse setzen.


Spezielle Fähigkeiten als Potential

Einige Unternehmen haben die spezifischen Fähigkeiten von neurodiversen Mitarbeitenden als Potential erkannt. Sie setzen spezielle Programme oder Kampagnen auf, um Bewerbungen zu erhalten oder Arbeitsbedingungen zu schaffen, die besser auf deren besondere Bedürfnisse angepasst sind.


Wie inklusiv ist der deutsche Arbeitsmarkt? Etwas über eine Million schwerbehinderte Menschen arbeiten in Deutschland bereits auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Damit ist im Unterschied zu reinen Behindertenbetrieben der reguläre Arbeitsmarkt gemeint, auf dem auch Menschen ohne Behinderung arbeiten. Ab einer Größe von 20 Mitarbeitenden sind Unternehmen in Deutschland gesetzlich zu einer Schwerbehindertenquote von 5 Prozent verpflichtet. Wer keine Menschen mit Behinderung beschäftigt, kann Ausgleichszahlungen an die Inklusionsämter leisten.


Ein bekanntes Beispiel für Neurodiversität in der Arbeit ist das Projekt „ Autism at Work" des Softwarekonzerns SAP, das seit 2013 mit autistischen Menschen arbeitet. Das Inkassounternehmen Arvato Financial Solutions startete dagegen 2019 die Kampagne „ Niemnd ist perfkt ", das auf Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie ausgerichtet ist. Gerade im Bereich der telefonischen Sachbearbeitung gebe es viele Möglichkeiten, Rechen-, Schreib- oder Leseschwächen durch technische Hilfsmittel auszublenden, schreibt die Bertelsmann-Tochter.


Hohe Neugier trotz anfänglicher Berührungsängste

Beim Unternehmen Auticon, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert, sind 70 Prozent der insgesamt rund 300 Angestellten Autistinnen und Autisten. Die Firma vermittelt Menschen mit Autismus als IT-Spezialisten an andere Unternehmen, unter anderem im Banken- und Versicherungssektor oder der Automobilindustrie. Besonders in der Fehleranalyse von Software oder in großen Datenbeständen seien Autisten unschlagbar, sagt Dieter Hahn, Managing Director bei Auticon. „Autisten brauchen Fehler nicht zu suchen, Fehler fliegen sie förmlich an."


Die autistischen Angestellten bei Auticon werden durch geschulte Jobcoaches bei der Arbeit unterstützt. Bereits im Einstellungsprozess lerne man die Bewerberinnen und Bewerber gut kennen und erstelle ein auf die fachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Person zugeschnittenes Profil. „Wenn einer unserer Spezialisten beginnt, in einem Projekt zu arbeiten, stellt der Jobcoach dem Team beim Auftraggeber in einem Eingangsbriefing den Kandidaten oder die Kandidatin vor", erklärt Hahn. Zudem werde generell über das Thema Autismus aufgeklärt. „Die Neugier ist sehr hoch, aber anfangs gibt es meist noch Berührungsängste", sagt Hahn. Die Jobcoaches kümmerten sich auch während des Arbeitsprozesses um auftauchende Fragen und Probleme, so der Managing Director.


Wandel zu mehr Diversität in der Arbeitswelt

Hahn beobachtet einen Trend zu mehr Inklusion von neurodiversen Menschen in der Arbeitswelt. „Gerade in der jungen Generation gibt es einen Wandel hin zu mehr Diversität", so der Auticon-Experte. Auch durch prominente Persönlichkeiten wie Greta Thunberg sei das Thema Autismus in der Gesellschaft mehr in den Vordergrund gerückt. Hinzu komme, dass die sogenannten „ESG-Kriterien" auch für Investoren eine immer größere Rolle spielten. Die Abkürzung beschreibt die Unternehmenskriterien Umweltschutz, soziale Strukturen und guten Führungsstil (Englisch: environment, social, governance).


Ein weiterer Grund dafür, dass die Arbeitswelt zunehmend inklusiver wird, ist der Fachkräftemangel. Laut dem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) beim Bundesarbeitsministerium sehen 55 Prozent der Unternehmen in Deutschland den Fachkräftemangel schon jetzt als Risiko. Demnach waren bereits 2019 fast acht von zehn ausgeschriebenen Stellen in Deutschland nur schwer zu besetzen. Besonders stark ausgeprägt ist der Mangel in der Pflege und in den sogenannten Mint-Berufen - die Abkürzung steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.


Fachkräftemangel fördert Inklusion

Gerade im IT-Bereich sei der Mangel massiv zu spüren, berichtet Hahn. Durch die Zusammenarbeit mit den autistischen IT-Experten werde in vielen Betrieben ein größeres Bewusstsein für Diversität geschaffen. „Ich habe schon viele Kollegen an Kunden verloren", sagt Hahn. Daraus hätten sich für Auticon aber auch häufig neue Aufträge ergeben. „Es ist unser Ziel, möglichst viele Autisten in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen", sagt Hahn. Er appelliere deshalb an alle autistischen Menschen mit IT-Affinität, sich bei Auticon zu bewerben.


Dem Fachkräftemangel stehen knapp drei Millionen Erwerbslose in Deutschland gegenüber. Zu ihnen zählen auch viele Menschen mit Behinderungen oder neurobiologischen Störungen. Wieviel Potential für mehr Inklusion in der Arbeitswelt bietet sich? Aus Sicht von Astrid Neuy-Lobkowicz werden neurobiologische Unterschiede beim Thema Diversität noch zu wenig berücksichtigt. „Die Prävalenz für ADHS in der Gesellschaft liegt bei 3 bis 3,5 Prozent, für Autismus bei etwa einem Prozent - das sind vergleichsweise sehr hohe Zahlen", betont die ADHS-Expertin.


Auch laut Auticon sind 85 Prozent aller Menschen mit Autismus in Deutschland arbeitslos. Hochgerechnet auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wären das bei einer Häufigkeit von rund einem Prozent rund 440.300 Menschen.


Durch prominente Persönlichkeiten wie Greta Thunberg sei das Thema Autismus in der Gesellschaft mehr in den Vordergrund gerückt, berichtet das Unternehmen Auticon.

„Autismus ist ein breites Spektrum", betont Ulrich Adlhoch, Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen e.V. (bag if). „Darunter sind auch Menschen mit schwersten körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, die mehr oder weniger Pflegefälle sind." In diesen Fällen sei beruflich nicht viel möglich. „Trotzdem gibt es in allen Bereichen von körperlichen und geistigen Einschränkungen ein Potential für den Arbeitsmarkt, das größer ist, als es derzeit genutzt wird", so Adlhoch.


Mehr Chancen auch für weniger Qualifizierte

Man schätze, dass 10 bis 15 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen, die etwa in Werkstätten arbeiten, so qualifiziert werden könnten, dass sie in den ersten Arbeitsmarkt wechseln können, so Adlhoch. Im Moment wechsle nur etwa ein Prozent.


Obwohl noch keine riesigen Zahlen zu verzeichnen seien, beobachtet auch Adlhoch einen langsamen Trend hin zu mehr Inklusion in der Arbeitswelt. Inklusive Unternehmen gebe es in fast allen Branchen. „Das geht bis in die Spitzen der Hightechindustrie", betont der Vorsitzende der bag if. Auch weniger gut ausgebildete Menschen profitierten davon, dass nicht fachkraftspezifische Aufgaben häufiger delegiert würden. „Früher war ein Facharbeiter auch für die Wartung und Reinigung von Maschinen zuständig, heute wird das von anderen Beschäftigten, zum Beispiel von angelernten Kräften gemacht", sagt Adlhoch. Dadurch seien etwa auch für Menschen mit geistigen Einschränkungen mehr Chancen entstanden.


Damit Inklusion am Arbeitsplatz gelinge, sei es besonders wichtig, eine defizitorientierte Sichtweise hinter sich zu lassen und stattdessen die konkreten Stärken und Bedürfnisse der betreffenden Personen zu berücksichtigen, betont Adlhoch. Zudem müssten Mitarbeitende, Ausbilder und Vorgesetzte im Betrieb im Umgang mit ihren behinderten Kolleginnen und Kollegen geschult werden. Mit einem Jobcoaching durch Arbeitstherapeutinnen oder Sonderpädagogen könne man große Erfolge erzielen, so Adlhoch. „Es ist eine Herausforderung für die Unternehmen, aber es lohnt sich."


Der Grundgedanke, dass mehr Diversität zu besseren Ergebnissen für alle führe, gelte auch für neurobiologische Unterschiede, betont die Fachärztin Neuy-Lobkowicz: „Jede Art, zu sein, hat auch gewisse Vorteile - die Menschheit hat sich in ihrer Vielfalt so entwickelt, weil es unterschiedliche Stärke und Schwächeprofile gibt, die sich gegenseitig ergänzen und ausgleichen können." Deshalb sei auch eine Gruppe mit unterschiedlichen Eigenschaften und Qualifikationen effektiver.

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