Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Kuba: Die junge Generation wehrt sich gegen hausgemachtes Elend

Die Proteste auf der Insel richten sich gegen ein System, das es versäumt hat, sich neu zu erfinden. Der Leitartikel.

Havanna - Die Tage nach dem 11. Juli vergehen, aber die Menschen auf Kuba und fernab des letzten kommunistischen Eilands im kapitalistischen Meer fragen sich noch immer verwundert, was da eigentlich passiert ist.

Derartige Proteste hat es auf Kuba seit dem Sieg der Revolution 1959 so selten gegeben, dass man sie an einer Hand abzählen kann. Und so massiv und aggressiv hat überhaupt noch niemand Kritik an dem Regime gewagt. Waren die Proteste nur ein Strohfeuer - gespeist durch Hunger und Ärger über Stromabschaltungen? Oder sind die Proteste auf Kuba der Beginn einer Rebellion gegen die Revolution, die sich zu einem „Kubanischen Frühling" auswächst?

Kuba: Bilder von Protestierenden senden starkes Symbol in die Welt

Unstrittig ist, dass sich auf Kuba etwas bewegt. Der 11. Juli 2021 hat gezeigt, dass die Menschen die Polizei und die Staatssicherheit nicht mehr fürchten. Einer der Grundpfeiler der Beziehung zwischen der Bevölkerung und ihrer Regierung, der auf Kontrolle, Bevormundung und Repression basierte, ist damit zerstört.

Bilder von wütend Protestierenden, die auf umgekippten Polizeiautos stehen, senden ein starkes Symbol in die Welt: Das System ist nicht mehr unverletzbar. Und das ist gut so. Dass die Proteste so heftig und scheinbar aus dem Nichts losbrachen, hat seine innere Logik, seine äußeren Faktoren und auch seine historische Berechtigung.

Da ist zum einen die galoppierende Corona-Krise. Kuba hatte die Pandemie lange im Griff, weil die Regierung das Land schloss und Ausgangssperren verhängte. Aber jetzt verzeichnet die Insel eine der höchsten Ansteckungszahlen pro Kopf in Lateinamerika. Zudem sind die Hospitäler an der Grenze ihrer Kapazität. Und die mit berechtigtem Stolz selbst entwickelten Impfstoffe haben gerade erst Produktionsreife erreicht.

Ökonomischer Kollaps auf Kuba heizt Proteste an

Entscheidend aber ist der ökonomische Kollaps auf Kuba, den die Pandemie beschleunigt hat. Infolge der Krise sind viele der ohnehin darbenden Menschen in die Armut oder den Ernährungsnotstand gerutscht. Stundenlanges Schlangestehen für Lebenswichtiges im Lockdown ist ein Widerspruch. Zudem zerren die Stromabschaltungen an den Nerven der Bevölkerung.

Für den Knockout sorgte die überhastete, weil verspätete wirtschaftliche Öffnung zu Jahresbeginn, die zu Preisschock, Hamsterkäufen und Rationierung bestimmter Lebensmittel führte. Die meisten der unrentablen Staatsbetriebe, bei denen 70 Prozent der arbeitenden Menschen in Kuba angestellt sind, verschwinden. Subventionen und Lebensmittelrationen werden abgeschafft.

Auch der Abschied der Revolutionsgeneration trägt Entscheidendes bei. Kein Castro ist mehr auf Kuba im aktiven politischen Geschäft vertreten. Die Kubaner mögen Fidel und Raúl Castro geliebt oder gehasst haben, sie haben beide aber respektiert. Diesen Respekt bringt die Bevölkerung dem neuen Staats- und Parteichef Miguel Díaz-Canel nicht mehr entgegen.

Kuba: Staat hat Informationsmonopol verloren

Aber die aktuellen Veränderungen in Kuba wären nicht denkbar ohne das Internet, das seit 2018 auf der Insel verfügbar ist. Seither hat der Staat das Informationsmonopol an die sozialen Netzwerke und Messengerdienste verloren. Geblieben ist ihm die Informationshoheit. Wenn notwendig wie jetzt, klemmt der Staat das World Wide Web und die Mobilfunkleitungen einfach ab.

Auch die Proteste vom vergangenen Sonntag wären ohne soziale Netzwerke nicht passiert. Sie ließen sich in Echtzeit auf der ganzen Insel verfolgen. Dadurch fühlten sich die Menschen überall zum Nachahmen animiert.

Will er einen „kubanischen Frühling" verhindern, muss Díaz-Canel seiner Bevölkerung Aussichten auf eine umgehende Verbesserung ihrer Lage bieten. Sonst kann er sein System nicht retten. Bisher aber hat er nur die alten Reflexe aktiviert: Repression gegen die Protestierenden und ihre angeblichen Anführer und Schuldzuweisung an die USA und ihr jahrzehntealtes Embargo. So richtig der Vorwurf ist, so falsch ist er in der Konsequenz: Das kubanische Elend ist weitgehend hausgemacht. Ein halbes Jahrhundert hat sich die Revolution hinter der „Blockade" versteckt, ohne zu versuchen, ein tragfähiges Wirtschaftsmodell zu erfinden.

Kuba: Junge Menschen wollen Ende von Knappheit, Mangel, Unterdrückung und Unfreiheit

Den Großteil der Menschen, die jetzt auf Kuba auf die Straßen gehen, interessieren diese historischen Verwicklungen nicht mehr. Die jungen Leute in Kuba wollen nur ein Ende von Knappheit, Mangel, Unterdrückung und Unfreiheit. Die historischen Errungenschaften wie ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem und eine noch immer konkurrenzfähige Medizinforschung reichen eben nicht mehr. Sie sind auch derart geschwächt, dass man sie heute nicht mehr als vorbildlich bezeichnen kann. Wenn der Großteil der ausgebildeten Ärzte als Exportgut ins Ausland geschickt wird, anstatt die Menschen in Kuba zu heilen, dann läuft irgendetwas grundlegend falsch.

Die Kubaner, die jetzt demonstrieren, wollen nicht mehr Fidel Castros alten Kampfspruch von „Patria o Muerte", „Heimat oder Tod", hören. Ihre neue Hymne ist der Song oppositioneller Künstler: „Patria y Vida", „Heimat und Leben". (Klaus Ehringfeld)

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