Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Wie Gangs in Kolumbien während der Pandemie Kinder zwangsrekrutieren - DER SPIEGEL - Politik

Was Hector Fabio Idrobo in diesen Wochen der Pandemie sieht und hört, ist selbst für den erfahrenen Bürgeranwalt im kolumbianischen Toribío ungewohnt. Idrobo erzählt von Männern in zivil und in Uniform, die im Zentrum der 30.000-Einwohner-Gemeinde in den kolumbianischen Bergen Jungen und Mädchen ansprechen, Geschenke machen, Einladungen verteilen: "Sie nähern sich meist den Jüngsten, schenken ihnen CDs oder Videos, verwickeln sie in Gespräche", berichtet Idrobo am Telefon.

"Wenn sie von der Guerilla sind, dann erzählen sie von Waffen und vom spannenden Leben in den Bergen." Wenn sie von den Drogenkartellen seien, dann köderten sie die Heranwachsenden mit Geld. "Und so verdrehen sie den Jungs und Mädchen den Kopf, die oft aus armen und vielfach auch dysfunktionalen Familien stammen." Im nächsten Schritt laden sie die Kids dann in die Camps ein, präsentieren ihnen ihre Waffen, halten Vorträge. "Und ehe sich die Kinder und Jugendlichen versehen, stecken sie selbst in Uniformen."

Dass die bewaffneten Gruppen versuchten, Nachwuchs unter Jugendlichen und Kindern zu suchen, habe es in Toribío schon immer gegeben, erzählt Idrobo. Aber so offensiv wie jetzt, seit Kolumbien in Corona-Quarantäne liegt, hätten sie noch nie rekrutiert, sagt der 37-Jährige, der bereits von 2013 bis 2016 Ombudsmann in dem Ort war und es seit ein paar Monaten wieder ist.

Ombudsmänner sind Angestellte des Staates, deren Aufgabe es ist, das Ohr an der Bevölkerung zu haben und deren Interessen gegenüber dem Staat zu vertreten. Offiziell - so schreibt es die kolumbianische Verfassung vor - sollen sie auf die Einhaltung der Menschenrechte achten und dem Staat auf die Finger schauen. In seinem Job ist Idrobo daher auch der Kummerkasten der Bevölkerung - und die Menschen erzählen ihm vertraulich, wie ihre Kinder einfach "in die Berge" gehen, mitgenommen werden, oder wie die Guerilla die "Quote" bei einer kinderreichen Familie einfordert - einen Sohn.

Toribío liegt im südwestlichen Departement Cauca und ist ein strategischer Ort im komplexen kolumbianischen Gewaltpanorama. Das Cauca ist eines der größten Koka- und Marihuana-Anbaugebiete des Landes, verfügt über reichlich Mineralien, Wasser und Kohle. Zudem ist die Region ein wichtiger Korridor zur Pazifikküste.

In dem grünen und bergigen Departement konzentrieren sich die Probleme Kolumbiens: Drogenschmuggel, illegaler Bergbau, Landraub, Vertreibung. Und neben Linksrebellen mischen dort paramilitärische Gruppen, Drogenschmuggler und gewöhnliche Kriminelle mit. "Und wir liegen mittendrin", sagt Idrobo.

Nationale Kinderschutzorganisationen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Vereinten Nationen sehen zunehmende Zwangsrekrutierungen Minderjähriger im ganzen Land. Regionale Konflikte flammten vielerorts wieder auf und würden begleitet von einer Rekrutierungsoffensive aller Gruppen. Besonders im Fokus dabei: Kinder und Jugendliche, weil sie von allen illegalen Akteuren als Spitzel, Kuriere und als Kämpfer eingesetzt werden.

In der Corona-Pandemie sind sie besonders verletzlich.

Denn jetzt falle die Schule als Schutzraum aus, in dem die Lehrer auch als Sozialarbeiter fungierten und die Kinder auf die Gefahren hinwiesen, sagt Julia Castellanos von der "Beobachtungsstelle für Kindheit und bewaffneten Konflikt" (ONCA), einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Bogotá. Zudem werden die Mädchen und Jungen in den Schulen auch mit Essen versorgt und außerhalb der Unterrichtsstunden betreut.

Doch in der Corona-Quarantäne seien Heranwachsende oft auf sich allein gestellt, häufiger zu Hause, langweilten sich. Das nutzen die bewaffneten Gruppen. So zählte Castellanos' Beobachtungsstelle zwischen Januar und April 128 Fälle von Zwangsrekrutierung von Kindern, mehr als doppelt so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher geschätzt.

Zwar hat Kolumbien vor dreieinhalb Jahren mit dem weltweit gefeierten Friedensabkommen mit den " Revolutionären Streitkräften Kolumbiens" (Farc) einen großen Schritt raus aus mehr als einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg gemacht. Doch auf Frieden warten die Menschen noch immer.

Das Vakuum, das die Farc nach Demobilisierung und Abzug aus ihren Einflusszonen hinterließen, hat nicht wie versprochen der Staat gefüllt, sondern es sind andere illegale Gruppen wie die kleine Linksguerilla ELN ("Nationales Befreiungsheer"), Paramilitärs oder Drogenkartelle eingedrungen.

Insgesamt sind es mindestens ein Dutzend bewaffneter Gruppen, die in dem südamerikanischen Land um Routen und Reviere für Rauschgift und anderen Waren kämpfen. Und sie brauchen ständig Nachwuchs. Hinzu kommen vom Friedensprozess enttäuschte ehemalige Farc-Rebellen, die wieder zu den Waffen greifen und sich Farc-Dissidenz nennen. Diese Gruppe gäbe auch in Toribío den Ton an, sagt Hector Fabio Idrobo.

Kinderschutzorganisationen berichten auch aus anderen Regionen Kolumbiens von neuartigen Modi operandi in Pandemiezeiten. Im Departement Norte de Santander an der Grenze zu Venezuela etwa laden die bewaffneten Gruppen über die sozialen Netzwerke zu Festen ein, wo sie die Jungen und Mädchen anwerben.

Die ELN-Guerilla setzt in den von ihr dominierten Gebieten wie dem südlichen Departement Nariño 14-Jährige dazu ein, die Ausgangs- und Straßensperren zu sichern, die von der Guerilla im Kampf gegen Covid-19 verhängt wurden.

Kinder seien weit mehr als kleine Kämpfer, sagt der Politologe David Santos. "Sie erfüllen für die illegalen Akteure viele nützliche Funktionen, sind form- und beeinflussbar, kosten weniger als Erwachsene", zählt Santos auf, der mehrere Jahre als Berater für die Regierung von Ex-Präsident Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) zu dem Thema tätig war.

Die Zwangsrekrutierten verrichteten Hilfsdienste in den Camps, Mädchen würden oft Opfer sexueller Ausbeutung. "Die Jüngsten, die schon zum Teil mit acht Jahren rekrutiert werden, arbeiten als Späher oder verkaufen Rauschgift an der Schulen." Bei der Guerilla würden sie erst ab 16 Jahren an den Waffen eingesetzt. Die Drogenkartelle hingegen bildeten die Jungen deutlich früher schon zu Killern aus und zu Handlangern etwa bei Entführungen.

Laut Miguel Ceballos, Friedensbeauftragter der kolumbianischen Regierung, haben die bewaffneten Gruppen in den vergangenen 20 Jahren rund 14.000 Mädchen und Jungen zwangsrekrutiert. Hauptverantwortlich waren dafür die Farc. Derzeit hätten vor allem die ELN-Guerilla und die Farc-Dissidenz sowie das Drogenkartell "Clan de Golfo" die meisten Heranwachsenden in ihrer Gewalt.

Historisch seien Kinder in Kolumbien "Objekte, über die man verfügen kann", erklärt David Santos. Als Subjekte mit eigenen Rechten seien sie erst durch das Kinderschutzgesetz von 2006 anerkannt. Gerade wegen dieser historischen Verwurzelung sei das Problem schwer zu lösen. Santos kritisiert die aktuelle Regierung. "Staatschef Iván Duque setzt wieder auf Krieg im Kampf gegen die Guerillas. Darunter leiden besonders die Kinder."

Auch Julia Castellanos von der Beobachtungsstelle ONCA sieht den Staat in der Pflicht. Die strukturellen Probleme Kolumbiens wie Armut, fehlende soziale Infrastruktur auf dem Land und Armut müssten endlich gelöst werden. "Sie machen die Heranwachsenden zu einer leichten Beute für die bewaffneten Gruppen."

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