Chile in der Coronakrise "Wie die Titanic vor dem Eisberg"
Lieber Corona als den Hungertod - in Chile gehen die Armen gegen den Lockdown auf die Straße. Die Demonstranten fühlen sich vom Staat im Stich gelassen.
Zu Beginn der Woche war es Puente Alto, ein riesiger Arbeitervorort im Südosten von Santiago. Hier hausen die Menschen dicht gedrängt, Großfamilien in Sozialwohnungen von 32 Quadratmetern. Sie leben von schwerer, schmutziger Arbeit, auf dem Bau, in Supermärkten oder als Wach- oder Hauspersonal. Falls sie noch einen Job haben. Seit Ausbruch der Coronakrise in Chile Mitte März haben Zehntausende in Puente Alto ihre Arbeit verloren. Und die Gemeinde gehört zu den Hotspots der Krankheit in dem südamerikanischen Land. 3658 Menschen pro 100.000 Einwohner haben sich hier mit dem Virus angesteckt. Und mit den Infektionen wachsen Angst und Verzweiflung.
Daher haben die Bewohner von Puente Alto der radikalen Ausgangssperre in Santiago getrotzt, gingen auf die Straße, zündeten Barrikaden an, schlugen auf Töpfe und Pfannen. Und sie trugen Plakate bei sich: "Ich sterbe lieber an Covid-19 als an Hunger", stand auf einem Transparent. Ein Bewohner sagte einem chilenischen Fernsehsender: "Wir sind acht in unserem Haushalt, und keiner hat mehr einen Job. Wir wollen was zu essen".
Aber Präsident Sebastián Piñera schickte keine Hilfspakete, sondern die Polizei. Die Sicherheitskräfte lösten die Demonstration mit Tränengas auf. Genauso wie Tage zuvor die Hungerproteste in den nahen Armenvierteln El Bosque und La Pintana. Die Staatsmacht reagierte genau so wie auch vor der Coronakrise, als monatelange Demonstrationen gegen das neoliberale Wirtschafts- und Sozialmodell Chile an die Grenze der Unregierbarkeit brachten.
Dieses Mal aber sind es nicht Studenten, Schüler oder die Mittelklasse, die auf die Straßen gehen, es ist der unterste Teil der Gesellschaft. Arbeiter, Arbeitslose, Obdachlose. Menschen, die am gefährdetsten sind, weil sie ihre prekären Jobs in Zeiten wie diesen sofort wieder verlieren. 30 bis 40 Prozent der Chilenen leben nach Angaben des Uno-Entwicklungsprogramms (UNDP) in "extremer Unsicherheit, die an eine Notlage grenzt".
"Während die Menschen vorher gegen Missstände im Wirtschaftssystem, also niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten und ein gewinnorientiertes Bildungssystem auf die Straße gingen, prangert ein anderer Teil der Gesellschaft jetzt die Vernachlässigung durch den Staat an", sagt Jorge Saavedra, Professor an der britischen Cambridge-Universität. "Die Menschen in Puente Alto und vergleichbaren Orten fühlen sich vom Staat vergessen."
Und die aktuellen Proteste seien erst der Anfang, vermutet Saavedra. "Spätestens wenn die Pandemie vorbei ist, wird sich die Wut auf das System stärker entladen als zuvor." Der "Soziale Protest 2.0" werde einen noch viel größeren Teil der Bevölkerung vereinen; diejenigen, die unter dem Missbrauch des Staates leiden und diejenigen, die Vernachlässigung durch eine unsensible Regierung beklagen. "Chile steht wie die Titanic vor dem Eisberg", fürchtet Saavedra.
In Quilicura, einem Mittelklasseviertel von Santiago, macht sich Cecilia Quidel Sorgen: Sie ist Lehrerin und in ihrem Stadtteil mit den kleinen Einfamilienhäusern, wo Staatsbedienstete und Manager wohnen, hat Corona seine Spuren hinterlassen. "In der WhatsApp-Gruppe der Nachbarn werden ständig Möbel zum Verkauf oder hausgemachtes Essen angeboten". Auch in Quilicura hätten viele ihre Arbeit verloren, sagt Quidel. Besonders verärgert seien die Menschen über das "Gesetz zum Schutz der Arbeitsplätze", das die Regierung gleich nach Ausbruch der Pandemie erlassen hat.
Dies erlaubt den Unternehmen, ihre Arbeitnehmer bis zu fünf Monate ohne Bezahlung freizustellen. Aber was eigentlich für kleine und mittlere Unternehmen gedacht war, haben vor allem Supermarktketten, Kaufhäuser und andere Großunternehmen genutzt, um ihre Mitarbeiter zu entlassen. "Im Grunde ist es ein Gesetz, das die Unternehmer schützt und nicht die Arbeiter", kritisiert der Soziologe Saavedra. Und niemand garantiert, dass die Firmen nach der Pandemie die Mitarbeiter wieder einstellen. "Präsident Piñera", sagt Cecilia Quidel, "ist völlig losgelöst von der Not der Armen." Er habe keine Empathie fürs Volk, sagt die 56-Jährige.Wie zum Beweis erzürnte Ende der Woche die Bemerkung von Gesundheitsminister Jaime Mañalich das Land, der in einem Interview bekannte: "Ich wusste nicht, wie arm die Menschen in einigen Gegenden von Santiago sind, und wie zusammengepfercht sie dort leben."
"Ich wusste nicht, wie arm die Menschen in einigen Gegenden von Santiago sind"
Spätestens wenn die Pandemie überstanden ist, will auch Cecilia Quidel wieder gegen die Regierung und für das Verfassungsreferendum demonstrieren. Die ursprünglich für den 25. April geplante Volksbefragung wurde vorerst um sechs Monate verschoben. Aber auch den 25. Oktober stellte Piñera jüngst infrage. "Wenn die Wirtschaftskrise so groß wird, wie erwartet", müsse man über dieses Datum noch mal nachdenken.
Die Bevölkerung würde das kaum hinnehmen, glauben Experten. Gerade nach Corona seien noch mehr Chilenen sicher, dass das in der Verfassung von 1980 verankerte Wirtschafts- und Sozialmodell, das noch aus der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 bis 1990) stammt, abgeschafft werden müsse. Ein System, das die Rolle des Staates auf ein absolutes Minimum reduziert. "Corona hat den Menschen deutlich vor Augen geführt, dass eine Gesellschaft einen sozialen Staat braucht, der Verantwortung für die Bevölkerung übernimmt", sagt Forscher Saavedra.