Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Brasilien: Panzer unterm Zuckerhut

Es sind verstörende Bilder, die derzeit aus Rio de Janeiro um die Welt gehen. An der berühmten Copacabana mischen sich Soldaten in Kampfmontur unter Touristen in Badelatschen und Shorts. Die an den Hügeln der Stadt klebenden Favelas sind praktisch besetzte Gebiete. Panzerwagen stehen an strategischen Ecken der Armenviertel, Infanteristen kontrollieren an Checkpoints die Einwohner, fotografieren sie, um Straftäter zu finden.

Seit einer Woche hat das Militär unter dem Zuckerhut Stellung bezogen. Und die Streitkräfte sind gekommen, um zu bleiben. Angesichts der Unfähigkeit, Korruption und Unterausstattung der Polizei Rios sollen sie bis mindestens zum Jahresende die Sicherheit in der zweitgrößten Stadt Brasiliens garantieren. So hat es der rechte Präsident Michel Temer Mitte des Monats nach einer ausgesprochen blutigen Karnevalswoche verfügt, und so hat es der Kongress abgesegnet. Experten halten die Maßnahme für nicht hilfreich und vermuten dahinter politische Motive. Schließlich ist Wahljahr in Brasilien. Jedenfalls weckt die Militarisierung Erinnerungen an die Diktatur, die in Brasilien erst vor 30 Jahren zu Ende ging.

Rio hat seine Lebensfreude verloren

Tatsächlich hat Rio de Janeiro angesichts ungekannter Gewaltexzesse seine Leichtigkeit und Lebensfreude verloren. Die „Cidade maravilhosa", die „wunderbare Stadt", wird zur „Cidade horrorosa". 2017 wurden in Rio 6700 Morde verzeichnet, das entspricht 18 am Tag. Es ist die höchste Zahl seit fast zehn Jahren und 26 Prozent mehr als noch 2015. Drei von vier Einwohner Rios würden, wenn sie könnten, aus der Stadt wegziehen, ermittelte jüngst eine Umfrage.

Die Kriminalität hat dermaßen überhand genommen, dass sie inzwischen nicht nur die Armutsviertel trifft. Sie ist in der ganzen Stadt angekommen. Die Nachrichten der vergangenen Tage prägten folgende Vorfälle: Überfälle auf Supermärkte, Schießereien auf den Stadtautobahnen, Kinder im Kreuzfeuer der Drogenbanden. Schulen, die wegen Gewalt die Türen schließen, und brutal ausgeraubte Touristen. Und die Polizei ist überfordert, demotiviert und steht bisweilen selbst aufseiten der Gesetzlosen. Die Polizisten werden - falls überhaupt - verspätet bezahlt, das Benzin für die Streifenwagen ist ebenso knapp wie Munition und Formulare zur Aufnahme von Anzeigen. Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist aufgrund fehlender Einnahmen aus dem Erdölgeschäft und Misswirtschaft schlicht pleite. Das ist Teil des Problems.

Zudem ist die vor zehn Jahren begonnene Befriedung der Favelas gescheitert. Die Drogenbanden sind stärker denn je. Das Konzept der auf Kooperation statt Konfrontation setzenden Bürgerpolizei UPP blieb letztlich ohne Erfolg, da es nicht begleitet wurde von Programmen, die den Favela-Bewohnern auskömmliche Alternativen aufzeigen konnten. Zudem drängt Brasiliens größte Bande des Organisierten Verbrechens in die Stadt. Das „Primeiro Comando da Capital" aus São Paulo will das in Rio dominierende „Comando Vermelho" verdrängen und sich des lukrativen Drogenhandels bemächtigen.

Das organisierte Verbrechen hat den Staat Rio de Janeiro fast übernommen. Es ist ein Krebs, der die Ruhe der Bevölkerung bedroht Michel Temer, Brasiliens Präsident

„Das organisierte Verbrechen hat den Staat Rio de Janeiro fast übernommen. Es ist ein Krebs, der die Ruhe der Bevölkerung bedroht," rechtfertigt Präsident Temer die Militarisierung. Die Kritik kam umgehend: „Das ist eine der größten Verletzungen der Bürgerrechte seit dem Ende der Diktatur", twitterte die entmachtete Staatschefin Dilma Rousseff.

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