Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Hyperinflation und Lebensmittelmangel: Venezuelas große Leere - SPIEGEL ONLINE - Wirtschaft

Der Eigentümer der Bäckerei "Hidalgo" in Ciudad Guayana hatte Mitte der Woche genug. Das grüne Rollo seines Geschäfts blieb am Mittwoch unten. Daran war ein Zettel befestigt, auf dem stand: "Cerrado por saqueo". Wegen Plünderung geschlossen.

Drei Tage lang waren in der Millionenstadt am Orinoco im Osten Venezuelas Geschäfte überfallen, gestürmt und geplündert worden.

Eine Mischung aus Hunger, Hoffnungslosigkeit und Wut bringt die Venezolaner im ganzen Land dazu, sich bei Bäckereien, Gemischtwarenläden, aber auch bei Haushaltswarengeschäften die Dinge zu erbeuten, die sie nicht mehr bezahlen können. Die Inflation in dem südamerikanischen Krisenstaat steigt schon lange nicht mehr - sie rast. Das Geld entwertet sich buchstäblich über Nacht.

Einmal die Woche, spätestens alle zwei Wochen stiegen die Preise, sagt Patricia Marcano, eine junge Frau aus Caracas. Nach Berechnungen der privaten Wirtschaftsberatungsfirma Ecoanalítica endete 2017 mit einer Jahresinflation von 2874 Prozent - allein im Dezember stiegen die Preise um rund 80 Prozent. Da ist es besser zu verstehen, dass mancher die Nerven verliert, vor allem wenn der Hunger mitspielt.

Anarchische Zustände

Erschwerend kam Ende des Jahres hinzu, dass die staatlichen CLAP-Essenspakete für die Ärmsten gar nicht verteilt wurden oder sehr dürftig ausfielen. Vor allem das "Pernil" fehlte, die Schweinkeule, auf die kaum eine venezolanische Familie Weihnachten verzichten will. Die CLAP (Lokale Komitees zur Versorgung und Produktion) schuf die venezolanische Regierung vor knapp zwei Jahren, um die Versorgungskrise bei den Bedürftigsten zu lindern. Sie sind die wichtigste Klientel der regierenden Chavisten. Aber nicht einmal diese bekommen sie mehr satt.

"In den vergangenen Wochen hat sich die Situation noch mal verschärft", sagt ein ausländischer Beobachter. Anders als in den Vorjahren gab es zwar etwas zu kaufen, aber die Dinge waren nicht zu bezahlen. Die Hyperinflation und die Anfang Januar staatlich verordneten Preissenkungen bei Lebensmitteln von bis zu 70 Prozent hätten dann im ganzen Land anarchische Zustände hervorgerufen. "Es war wie Schlussverkauf bei Lebensmitteln", fügt der Beobachter hinzu. Aber jetzt sind die Lager leer. "Die Situation wird sich also weiter verschärfen". Schließlich muss Venezuela den Großteil seiner Lebensmittel importieren. Aber Devisen sind kaum noch da.

Venezuela ist Anfang 2018 noch ein Stück tiefer in die Krise gerutscht, auch wenn das kaum möglich erscheint. In den Bundestaaten Zulia, Nueva Esparta, Miranda, Aragua, Carabobo und selbst der Hauptstadt Caracas spielen sich in diesen Januartagen ähnliche Szenen ab wie in Ciudad Guayana: Rollläden bleiben unten, viele Geschäfte ergreifen Vorsichtsmaßnahen und öffnen die Rollos nur zur Hälfte oder lassen nur wenige Menschen ins Geschäft. Cafés stellen draußen keine Stühle oder Tische auf.

Kondome fehlen - die Geburtenrate Minderjähriger steigt

Milch, Hühnchen, Klopapier und Zahnpasta - seit Jahren schon Luxusgüter - sind in diesen Tagen kaum irgendwo zu finden oder zu bezahlen. So wie auch der Rum, mit dem Patricia Marcano gerade auf ihren 33. Geburtstag angestoßen hat. Die Flasche kaufte sie schon im August für 18.500 Bolívares (etwa 1500 Euro). "Heute würde mich die Flasche 900.000 oder 1,5 Millionen kosten", erzählt sie. Weil Antibabypillen und Kondome unerschwinglich oder schlicht nicht verfügbar sind, hat Venezuela mittlerweile die zweithöchste Geburtenrate unter Minderjährigen in Lateinamerika.

Die Venezolaner verbringen Stunden vor Banken, um Geld abzuheben. Aber maximal 100.000 Bolívares am Tag bekommt man am Schalter. Andere fahren weit, um zu Supermärkten zu gelangen, die Ware haben. Aber selbst die Fortbewegung ist kompliziert in Caracas. Der Nahverkehr liegt phasenweise komplett darnieder, weil Ersatzteile wie Reifen oder Motoröl knapp oder so teuer wie ein ganzer Bus sind.

Der Regierung in Caracas gehen die Maßnahmen aus, den wirtschaftlichen Kollaps zu stoppen. Die US-Sanktionen gegen den Ölkonzern PDVSA und das Verbot, mit neuen venezolanischen Staatsanleihen zu handeln, haben den Handlungsspielraum von Machthaber Nicolás Maduro nochmals verengt.

Maduro setzt auf den "Petro"

Zur Lösung der Krise kündigte der Präsident im Dezember die Schaffung des "Petro" an. Die Digitalwährung soll das alternative Zahlungsmittel werden. Maduro hofft, vom Boom der Kryptowährungen wie dem Bitcoin zu profitieren und sich über den Nebenfinanzmarkt aus den Zwängen des internationalen Finanzsystems und den Sanktionen zu befreien.

Geplant sei ein Volumen von 100 Millionen "Petro", entsprechend rund 5,9 Milliarden Dollar. Das neue Zahlungsmittel soll an den Preis für ein Fass venezolanisches Öl gekoppelt werden, das am Freitag bei gut 60 Dollar lag. Jean Paul Leidenz, Chefvolkswirt bei Ecoanalítica, vermutet, dass die Regierung einen Token basierend auf der Ethereum-Blockchain ausgeben will. Wichtig sei, dass der Petro Vertrauen schaffe, auf dessen Basis er dann später in andere Währungen eingetauscht werden kann. Nur dann habe er eine Chance, der Regierung aus der Finanzklemme zu helfen.

Dass sich diese Vertrauensbasis herstellen lässt, muss aber bei der Finanzlage Venezuelas bezweifelt werden. "Vermutlich denkt die Regierung an russische, chinesische und indische Investoren", sagt Leidenz. Ausgabedatum des Petro könnte der 15. März sein.

Nach Einschätzung von Michael Langer kann die Ausgabe des Petro nur der Auftakt zu einer Währungsreform sein, die Venezuela braucht, um nicht völlig zu kollabieren. "Und diese muss von der Regierung selbst kommen", ergänzt der Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Caracas. Die Opposition MUD (Tisch der demokratischen Einheit) sei dazu nicht in der Lage. Zumal das Bündnis aus mehreren Parteien mittlerweile in drei Lager gespalten ist. Die Opposition hat seit dem Sommer 2017 viel Kredit bei der Bevölkerung verloren - weil sie trotz monatelanger Straßenproteste die Einrichtung der Verfassunggebenden Versammlung (ANC) nicht verhindern konnte.

Exodus über die Straße

Wie groß der Frust der Venezolaner über das politische System ist, belegt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datincorp. Mit Blick auf eine mögliche Präsidentenwahl schnitt Oppositionskandidat Leopoldo López am schlechtesten ab. Der im Moment unter Hausarrest stehende Politiker der Partei "Voluntad Popular" würde demnach gerade einmal neun Prozent der Stimmen bekommen. Erstaunlicherweise erhielte Amtsinhaber Maduro 19 Prozent.

Aber beste Chancen gewählt zu werden, hat laut Datincorp jemand, der bisher gar nicht Präsident werden will: Lorenzo Mendoza. Er ist Chef und Eigentümer des Nahrungsmittelunternehmens "Polar", das vor allem das Mehl für die Maisfladen "Arepas" herstellt, die Leibspeise der Venezolaner. Mendoza hat Hugo Chávez und später Maduro immer erfolgreich widerstanden. "Venezuela steht vor einem politischen Chaos, ohne Führungsfiguren und glaubwürdige Institutionen", sagt Jesús Seguías, Präsident von Datincorp. "Und das mitten in einer sozialen und wirtschaftlichen Krise gigantischer Ausmaße."

Diese Krise hat allein in den vergangenen zwei Jahren zwei Millionen Venezolaner dazu bewogen, die Koffer zu packen. Fast jeden Abend kommt es an den Busbahnhöfen des Landes zu emotionalen Abschieden. Seit kaum noch Fluggesellschaften Venezuela anfliegen, und die Tickets unerschwinglich geworden sind, findet der Exodus über die Straße statt. Hauptsache raus. "Und mit den Migranten verlassen auch Wähler der Opposition das Land", gibt Michael Langer von der FES zu bedenken.

Das alles kommt der Regierung zupass für die Präsidentenwahl, die eigentlich Ende des Jahres geplant ist. Aber gerade machen Gerüchte die Runde, Maduro könne die Wahl auf April vorziehen. "Je eher die Wahl stattfindet, desto größer seine Chancen", denkt Langer. Denn wenn erst einmal die Währungsreform mit ihren schmerzhaften Einschnitten durch ist, werde die Zustimmung für Maduro weiter sinken.

dbate Video: Mein Leben unter Maduro - Aufstand in Venezuela

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