Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Bericht aus Mexiko-Stadt: "Die Straße hat sich in Wellen bewegt" - SPIEGEL ONLINE - Panorama

"Ich lebe seit 16 Jahren in Mexiko und habe schon kleinere Erdbeben erlebt - aber noch nie so etwas wie heute. Im ersten Moment dachte ich, das sei vielleicht eine neue Erdbeben-Übung. Aber dann war schnell klar: Das ist sehr ernst.

Die Erde bebte mittags gegen Viertel nach eins, ich war gerade mit einer Freundin in einem Restaurant. Wir sind dann raus auf die Straße gerannt, da waren schon zahlreiche andere Menschen, teils barfuß. Ich habe noch nie so viele Gesichter gesehen, in denen Angst zu erkennen war. Menschen haben geweint, waren sichtlich aufgelöst. Eine Frau lief mit ihrem Kind an der Hand und rief immer wieder: "Ich bin in Panik, ich bin in Panik."

Das Beben hat vielleicht zwei oder drei Minuten gedauert, man verliert dabei das Gefühl für Zeit. Die Straße hat sich in Wellen bewegt. Gebäude schaukelten hin und her, ein Hochhaus neben uns wackelte wie ein Pendel hin und her, Fensterscheiben sind auf die Straße gefallen.

In Mexiko funktioniert vieles nicht so gut, aber für solche Situationen sind die Menschen hier extrem gut trainiert. Sofort waren Helfer da, Leute mit Wasser oder schwerem Gerät, die in den Trümmern nach Menschen gesucht haben. Auch die Polizei und das Militär waren schnell vor Ort.

Gerade kam im Fernsehen die Meldung, dass 44 Gebäude in Mexiko-Stadt eingestürzt sind. Insgesamt sollen mehr als hundert Menschen gestorben sein. Nach allem, was ich in den Straßen gesehen habe, denke ich, dass sich die Zahl der Todesopfer noch deutlich erhöhen wird.

Ich bin heilfroh, dass ich zum Zeitpunkt des Bebens nicht zu Hause war - und dabei hatte ich noch Glück. Bei mir sind nur einige Regale umgefallen, Gläser und Vasen. Ich lebe im Viertel Roma, und nur anderthalb Straßenblocks entfernt ist ein großes Gebäude eingestürzt, unten war ein Betten-Geschäft, darüber sieben oder acht Stockwerke mit Büros und Wohnungen. Im Süden der Stadt soll eine Grundschule eingestürzt sein.

Auf den Tag genau vor 32 Jahren kam es in Mexiko zum schlimmsten Erdbeben in der Geschichte des Landes, damals starben fast 10.000 Menschen. Deshalb gab es heute Morgen um elf Uhr eine Erdbeben-Übung. Da hat wohl noch niemand damit gerechnet, wie schnell daraus Ernst werden würde.

Inzwischen wird es dunkel in Mexiko-Stadt. Telefon und Internet funktionieren nicht. Zahlreiche Menschen sind noch immer auf den Straßen. Sie haben Angst vor Plünderungen, trauen sich aber nicht in ihre Wohnungen. Der Verkehr ist teilweise zusammengebrochen. Was ich hier sehe, ist eine Stadt im Ausnahmezustand."

Protokoll: Anna-Lena Roth
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