Nachdem Köln als erste Stadt mobile Impfteams in benachteiligte Stadtteile schickte, weil die Inzidenzen dort so hoch sind, ziehen nun andere Städte nach. Der Berliner Senat kündigte 10.000 Impfdosen für wirtschaftlich schwache Viertel an, Hannover will ab Mitte Mai in Vierteln mit beengten Wohnverhältnissen und hohem Infektionsgeschehen bevorzugt impfen. Und auch in Bremen sollen Hausärzte in ärmeren Vierteln mehr Impfdosen bekommen. Im RND-Interview spricht die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, über die Impfstrategie, Impfneid und warum die Entscheidung, vorrangig Senioren zu impfen, richtig war.
Frau Johna, Sie haben sich kürzlich für die Impfpriorisierung in benachteiligten Stadtteilen ausgesprochen. Warum?
Ich würde es nicht Impfpriorisierung nennen, weil wir ja nicht die jetzt noch bestehende Reihenfolge der Priorisierung ändern wollen. Die Idee ist, überall dort zu impfen, wo es sehr beengte und prekäre Lebensverhältnisse gibt. Das sind - besonders in größeren Städten - Quartiere, wo die Inzidenzzahlen sehr hoch sind. Es geht also darum, Hotspots in städtischen Bereichen zu identifizieren. Dort sollte zusätzlich zu der normalen Verteilung eine bestimmte Anzahl an Impfdosen zur Verfügung stehen. Wir löschen da, wo es am meisten brennt.
Eine Vorgehensweise, die sich bewährt hat?
Ja, das ist in dieser Pandemie schon praktiziert worden. Vor gar nicht so langer Zeit sind dem Saarland über die zustehende Menge hinaus eine fünfstellige Anzahl an Impfdosen gegeben worden, weil dort mehr Virusmutationen auftraten. Es ist also gut, erst mal zu sagen: Wir haben in dem Bereich ein Problem und dem begegnen wir mit mehr Impfdosen - damit war man eben auch im Saarland erfolgreich.
Die Frage, wer wie schnell geimpft wird, spielt gerade eine sehr große Rolle. Viele scheinen Angst zu haben, benachteiligt zu werden. Was ist der beste Weg, Akzeptanz in der Bevölkerung für eine unterschiedliche Reihenfolge zu schaffen?
Es ist nachvollziehbar, dass jeder gerne früh geimpft werden möchte. Dieser Wunsch ist bei vielen jetzt noch stärker, weil für die vollständig Geimpften bald viele Einschränkungen nicht mehr gelten werden. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass mehr als 90 Prozent der Bevölkerung noch nicht vollständig geimpft sind. Aber indem wir Menschen in beengten Lebensverhältnissen impfen, entlasten wir das Gesundheitssystem - und das ist etwas, von dem die gesamte Bevölkerung profitiert. Häufig arbeiten die dort lebenden Menschen in Berufen, die Homeoffice nicht möglich machen, und nutzen beispielsweise auch öffentliche Verkehrsmittel. Die Eindämmung solcher Hochinzidenzbereiche in Städten ist also gut für die, die wir impfen, aber auch gut für die angrenzenden Stadtteile. Die Menschen leben ja nicht isoliert, sondern sind ja auch unterwegs in anderen Stadtbereichen.
Die Kölner Stadtteile Chorweiler und Fühlingen liegen direkt nebeneinander. Chorweiler hatte eine Inzidenz von rund 540, Fühlingen lag bei knapp 50. Dort scheinen sich die Wege nicht besonders häufig zu treffen.
Als ich jetzt in Berlin auf dem Weg zum Ärztetag war, bin ich über die Sonnenallee hergefahren. Und da sieht man: Das ist plötzlich ein komplett anderes Stadtbild. Da sind ganz viele Menschen draußen - ein großer Teil mit Mund-Nase-Schutz-, die dann aber teilweise an einem Obststand mit 40 Leuten gleichzeitig stehen. Das sehen Sie sonst so nicht, wenn Sie beispielsweise in Wiesbaden an Marktständen sind, die ewig weit auseinander stehen. Es hat etwas mit den beengten Wohnverhältnissen zu tun, aber auch teilweise mit fehlendem Wissen um die Notwendigkeit von Maßnahmen.
Am Anfang der Pandemie ging es viel darum, dass das Virus alle gleich treffe. Dank Wissenschaftlern und Institutionen wissen wir mittlerweile, dass das nicht stimmt. Corona trifft Arme härter als Reiche.
Nicht ganz. Wir haben ja am Anfang der Pandemie auch in Italien gesehen, wie viel schneller da in manchen Bereichen die Ausbreitung des Virus stattgefunden hat. Da ging es gar nicht so sehr um die Frage arm oder reich. In Italien leben auch wohlhabende Familien in Großfamilien zusammen. Wenn ein Mensch in der Familie mit hoher Viruslast infiziert ist, stecken sich meist auch die anderen an. Es sind also mehr die Lebensverhältnisse, natürlich erst recht beengte Lebensverhältnisse. Bei den wirtschaftlich Schwachen, bei vielen Menschen mit Migrationserfahrung, kommt oft hinzu, dass sie sich gar nicht gut genug mit den Schutzmaßnahmen auskennen, weil sie bestimmte Informationen in deutscher Sprache nicht erreichen.
Aber es hat - von der Erkenntnis bis zum Handeln - doch relativ lange gedauert, bis es konkrete Maßnahme wie jetzt die mobilen Impfteams für benachteiligte Menschen gab. Warum ist das so?
Wir haben noch nicht so lange relevante Impfstoffmengen. Deswegen haben wir lange den Fokus auf die ältere Bevölkerung gesetzt. Insbesondere natürlich auf die, die in Seniorenheimen eng zusammenleben. Und jetzt, wo wir einen relevanten Teil der besonders gefährdeten älteren Menschen geimpft haben, kann man einen Teil der Impfkontingente in solche Corona-Hotspots geben. Ich finde nicht, dass wir damit zu spät sind. Der 50-Jährige, der in beengten Lebensverhältnissen wohnt, ist immer noch weniger gefährdet als der 80-Jährige im Seniorenheim. Medizinisch war und ist die Reihenfolge also sinnvoll. Aber es ist eben auch sinnvoll, jetzt zu sagen: „Wir versuchen, gerade in solchen Hotspots mit gezielten Impfungen die Verbreitung zu stoppen."
Würden Sie denn sagen, dass unser Gesundheitssystem benachteiligte Menschen generell genug mitdenkt?
Wir haben in Deutschland ein Gesundheitssystem, in dem in der Notaufnahme nicht die erste Frage ist, wie Sie versichert sind. Das ist nicht überall so, auch nicht in Industrieländern. Insofern würde ich immer noch sagen, dass das Gesundheitssystem in Deutschland im weltweiten Vergleich ein sehr gutes System ist, das man sicher auch noch besser machen kann.
Werden Menschen, die die deutsche Sprache nicht sprechen oder die anderweitig benachteiligt sind, genug erreicht?
Gerade im Bereich von Prophylaxe, also bei der Information über Möglichkeiten der Prävention, könnte man sicher noch einiges verbessern. Es ist wichtig, hier die schulische Bildung auszudehnen - für die ganze Bevölkerung, aber auch ganz besonders für Menschen, die in wirtschaftlich schwachen Lebensverhältnissen leben. Wenn wir da mehr erreichen können, wäre das ein echter Fortschritt. Wir wissen ja, dass dort, wo mehr Armut ist, Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck relevant verbreitet sind. Da können und da müssen wir in Deutschland noch mehr tun.
Und mobile Ärzte-Teams wie in Köln - wäre das auch eine Möglichkeit?
Wir haben ja in ganz Deutschland leider einen strukturellen Ärztemangel. Es ja schon traurig, dass wir in Deutschland zu wenig Ärzte ausbilden und darauf angewiesen sind, dass fertig ausgebildete Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland zu uns kommen. Und natürlich ist es wichtig, dass in Stadtteilen, wo viele Menschen leben, die hausärztliche Versorgung aufrechterhalten wird. Das ist aber oft nicht möglich, weil die Kollegen gar keinen Nachwuchs finden. Es ist sicher so, dass wir da mehr Anreize setzen müssen, damit Ärztinnen und Ärzte sich gerade auch in diesem Bereich niederlassen.
Was ist noch nötig, um hohe Inzidenzen auch langfristig einigermaßen einzudämmen? Das wird er wahrscheinlich nicht unsere letzte Pandemie bleiben.
Wir haben auch schon schwere „normale" Grippewellen erlebt, in denen viele Menschen gestorben sind. Insofern ist das Wissen um die Möglichkeit, die Infektionsübertragung einzudämmen, für viele Erkrankungen gleich. Genauso wie mich die medizinische Mund-Nase-Maske gegen das Coronavirus schützt, wird sie mich auch gegen das Grippevirus schützen oder gegen andere durch Aerosole übertragbare Erkrankungen. Wir haben weltweit extrem wenige Grippefälle in diesem Jahr gehabt, kaum Erkältungskrankheiten und selbst solche Dinge wie Krätze und Läuse sind viel weniger aufgetreten. Daher glaube ich, dass wir die Maske auch in kommenden Wintern selbst ohne Pandemie noch öfter antreffen werden.