Innerhalb der Volksrepublik China, bzw. dem Festland China, wird die sogenannte chinesische Sprache der größten ethnischen Bevölkerungsgruppe, der Han (oder Hon auf Kantonesisch), ständig erweitert. Unter den Varianten dieser Sprache oder Sprachenfamilie ist Mandarin die Sprache mit der höchsten Position in der Sprachhierarchie der Volksrepublik und hat die größte politische Bedeutung für die dominierende Han-Gruppe. In der Realität können diejenigen, die beispielsweise aus autonomen Verwaltungseinheiten stammen, benachteiligt sein, wenn sie nicht Mandarin, sondern nur eine andere Sprache oder Dialekt als Muttersprache sprechen. (Dies gilt sowohl für noch nicht anerkannte Sprachen, als auch wenn diese Sprache verfassungsrechtlich gleichermaßen Amtssprache ist - obwohl der Begriff „Amtssprache“ im Gesetz nicht verwendet wird.) In der Tat müssen alle Mandarin lernen, sonst riskieren sie, weniger Zugang zur Gesellschaft zu haben.
Die Vereinheitlichung der geschriebenen und gesprochenen Sprache auf dem chinesischen Festland mit Ausnahme von Hongkong und Macau, wo Kantonesisch und geschriebenes Mandarin immer noch parallel gültig sind, hat in den letzten Jahrzehnten die Sprachvielfalt Chinas in Frage gestellt. Dies kam teilweise dadurch zustande, dass die ursprüngliche chinesische Sprachhierarchie durch die westliche Kategorisierung in Sprache und Dialekt nur eine Variante als absolut dominante Sprache zuließ. Verstärkt wurde diese Entwicklung als China Mandarin endgültig zur Landessprache gewählt und als neue Schriftsprache eingeführt hatte, um einerseits die Alphabetisierung aber anderen Theorien zufolge auch den Nationalismus zu fördern. (So bietet die „Abweichung“ von Hongkong und Macau zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache - da sie offiziell auch als „Chinesisch“ bezeichnet wird - einen interessanten Einblick in die heutige europäische Realität: Diese sprachliche „Abweichung“ hat in die letzten Jahrhunderten in den meisten europäischen Ländern sowie auf dem Festland China extrem reduziert zu werden. Gleichzeitig kann das noch relativ lebhafte Kantonesisch als De-facto-Amtssprache auch zu einer Wiederbelebung sterbender „Dialekte“ in Europa als Akt des Schutzes der kulturellen Vielfalt führen.)
Die Art und Weise, wie Regionalsprachen oder Dialekte in den letzten Jahrzehnten im Rahmen von Maßnahmen der Volksrepublik behandelt wurden, ist äußerst umstritten, insbesondere wenn man an jüngsten Ereignisse denkt, über die in den internationalen Medien häufig berichtet wird. Dies erinnert an die Art und Weise, wie Frankreich oder Russland im Laufe der Geschichte eine einzige Nationalsprache in ihrem Hoheitsgebiet mit allen Kräften eingeführt haben.
Trotz der kontroversen Entwicklungen in Bezug auf die Sprachpolitik in China, weist dieses Land immer noch eine Sprachenvielfalt mit überraschender Lebenskraft auf. Dies liegt nicht nur daran, dass der Prozess der Auswahl (oder „Schaffung“) einer Nationalsprache viel später stattfand als beispielsweise in Frankreich oder Russland. Das Bemerkenswerteste ist, dass das klassische China immer durch die schriftlichen Sprache der Eliten im Klassischen Chinesisch und nicht durch eine einheitliche gesprochene Sprache vereint wurde.
Nach Mandarin hat Kantonesisch den einflussreichsten soziokulturellen und politischen Status im chinesischsprachigen Raum. Dieser Dialekt oder diese Sprache ist de facto die Amtssprache in Hongkong und Macau, beides ehemalige europäische Kolonien und heute Sonderverwaltungszonen im weiteren chinesischen Kontext.* Die jüngsten Bestrebungen zwecks Erhaltung des Kantonesischen Dialekts werfen erneut die Frage auf, ob dies ein Dialekt oder eine Sprache ist. Eine Landessprache gewinnt sehr oft an Einfluss, indem sie andere Varianten unterdrückt, und diese Entwicklung könnte auch Kantonesisch derzeit durchlaufen.
(Es ist interessant hervorzuheben, dass Kantonesisch seit der Kolonialzeit von den Regierungen von Hongkong und Macao weitestgehend standardisiert wurde. Das gleiche wurde in „Greater China“, einschließlich Singapur und den chinesischen Gemeinden in Malaysia, die schon immer Sprecher aus den verschiedenen großen chinesischen Han-Dialekten zusammenbringen wollten, mit Mandarin gemacht: Chinesisch in diesen beiden Ländern heißt genau wie in Festlandchina und Taiwan Mandarin.)
Wir müssen uns zunächst an drei relevante Fakten erinnern, um zu diskutieren, wie der Status des Kantonesischen definiert werden soll: Erstens war Kantonesisch als „chinesische Sprache“ in der Popkultur von riesiger Bedeutung, bevor das Festland Chinas im internationalen Kontext wiederauflebte. Zweitens hat Kantonesisch zusammen mit Fukienesisch und Hakka einen sehr bemerkenswerten Verbreitungsraum und eine bemerkenswerte Präsenz in staatlichen Rundfunk- und Fernsehdiensten im Süden des Festlands. Das liegt daran, dass diese Sprachen in Hongkong, Macau und in verschiedenen Teilen Taiwans als Verkehrssprachen gesprochen werden. Drittens ist der Protest Festlands kantonesischer Bürger gegen eine mögliche Entfernung kantonesischer Programme im Fernsehen im Jahr 2010 international bekannt geworden.
(Die deutsche Situation widerspiegelt auf viele Weisen die chinesische Sprachproblematik. In der modernen deutschen Sprache scheinen einige Regionalismen in ihrem eigenen Verbreitungsraum das gleiche Gewicht zu haben wie das sogenannte Hochdeutsch, zum Beispiel die Begrüßungsausdrücke. So kann man in Norddeutschland sowohl “Moin” als auch “Hallo” jederzeit sagen.) Bei Kantonesisch gelang es trotz intensiver Mandarinisierung über die Jahrzehnte hinweg und insbesondere in jüngerer Zeit, eine Vielfalt von Regionalismen mehr oder weniger zu bewahren, insbesondere unter älteren Generationen: Es gibt zum Beispiel mehrere Möglichkeiten „Tag“ oder „Nacht“ zu sagen, zusätzlich zu den Mandarin-Lehnwörter als etwas „formellere“ Sprache.
Dies ist auf die unterschiedliche Herkunft der Einwohner aus dem ganzen Kantonesischsprachraum in den beiden ehemaligen Kolonien zurückzuführen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch nach dem letzten chinesischen Bürgerkrieg (1945- 1949), als sowohl das chinesische Festland als auch Taiwan noch unter politischen Turbulenzen standen, wurden Hongkong und Macau als europäische Kolonien zu einem Zufluchtsort für Menschen vieler Herkunft. Mit der Laissez-Faire-Haltung der europäischen Kolonialmächte genossen die Flüchtlinge einige Freiheiten, die sie im kommunistischen China oder im damals noch diktatorischen Taiwan nicht hatten. Das traf auch auf die Sprache zu: In der relativ lockeren kolonialen Sprachpolitik wurden nämlich immer auch viele Regionalismen als gültig angesehen.
Die Bedeutung von Kantonesisch erklärt sich dadurch, dass während der britischen Kolonialisierung von Hongkong Kantonesisch als „Chinesisch“ gewählt wurde, anstelle anderer Varianten des Kantonesischen oder anderer großer Han-Dialekte, die ebenfalls in Hongkong nach dem Krieg gesprochen wurden. Früher betrachtete die portugiesische Kolonialverwaltung Kantonesisch sogar einmal als „Chinesisch“ und Mandarin als „Peking-Dialekt“.
Was diese Version der chinesischen Sprache vereint - wenn wir auf Kantonesisch das Wort „Chinesisch“ sagen, beziehen wir uns tatsächlich auf gesprochenes Kantonesisch -, ist der Akzent, der Kanton als Zentrum hatte und der heute bereits durch Hongkong-Macau ersetzt wird.
Die Tatsache, dass die europäischen Kolonialherren Kantonesisch als legitime Version von „Chinesisch“ betrachteten, trug zu seinem Status bei, ein Einfluss, der sich bis in die heutige Zeit streckt. In Hongkong wurde Kantonesisch somit de facto zur Amtssprache - obwohl es verfassungsrechtlich unklar ist. Macau tat es Hongkong gleich, obwohl Macau traditionell zu einem anderen subdialektalen Kantonesischsprachraum gehörte.
In der chinesisch-mandarin Fassung des Grundgesetzes von Macau - der sogenannten Mini-Verfassung - ist z.B. Chinesisch die „formelle“ Sprache, zusammen mit der „auch formellen“ Sprache Portugiesisch. In der portugiesischen Version sind sowohl Chinesisch als auch Portugiesisch „Amtssprachen“. Obwohl es hier nicht das Thema des Artikels ist, verdient ein Interpretationsproblem in diesem Gesetzestext Aufmerksamkeit, auch im kulturellen Sinne. Es ist absichtlich nicht genauer bestimmt worden, ob das lokal (noch) dominante Kantonesisch oder die Sprache der Pekinger Behörden Mandarin mit der Formulierung „Chinesisch“ gemeint ist. In der Gesellschaft auf dem chinesischen Festland wird die Benutzung anderer Sprachen oder Dialekte als das offizielle chinesische Mandarin nicht sozial ermutigt. Es ist daher sehr überraschend und zugleich erfreulich zu sehen, dass die chinesischen staatlichen Fernsehsender trotzdem Programme produzieren, die auf die Vielfalt der chinesischen Mundarten eingehen.
„All about the Dialects“ (2014-2017) war ein Unterhaltungsprogramm von TVS-2, einem Satellitenkanal von Guangdong Radio and Television, der sowohl die Guangdong-Provinz als auch das internationale Publikum bediente. Dieses Programm hat zwei Besonderheiten: Erstens ist das Programm mehrheitlich auf Kantonesisch, und zweitens befasst es sich nicht nur mit kantonesischen Varianten. Tatsächlich werden 20 in der Provinz gesprochene Mundarten verwendet, einschließlich der Kantonesisch-, Fukienesisch- und Hakka-Varianten sowie die Mien-Sprache, einer Version der Sprache der offiziellen Yao-Minderheit, die trotz ihrer geografischen Nähe und sprachlichen Ähnlichkeiten für beide Seiten unverständlich sind.
Zwei Jahre nach der Premiere von „All about the Dialects“ entstand im Zentrum des chinesischen Festlandes das Unterhaltungsprogramm „Splendid Chinese Language“, das von sechs zwischenprovinziellen Fernsehkanälen produziert wurde. Es enthält 87 Mundarten der 87 Verwaltungseinheiten in den sechs Provinzen Ānhuī, Héběi, Hénán, Húběi, Húnán und Jiāngxī (im Gegensatz zu den 20 kantonesischen Mundarten in „All about the Dialects“). Die Mundarten sind meistens Varianten von Mandarin mit einer interessanten Variation von Regionalismen. Das Programm wurde jedoch nur für kurze Zeit produziert, während „All about Dialects“ bis 2017 lief.
In diesen Programmen wurden Muttersprachler chinesischer Dialekte und Subdialekte sowie ethnischer Minderheiten zum Spielen eingeladen. Die Spiele bezogen sich hauptsächlich auf das Erraten der Bedeutung bestimmter Regionalismen. Berühmtheiten wurden zum Spielen eingeladen und Wissenschaftler gaben Kommentare ab. Es ist wichtig zu beachten, dass in „Splendid Chinese Language“ die Moderationssprache Standard-Mandarin ist, in „All about the Dialects“ die Moderationssprache Standard-Kantonesisch, bzw, die Kanton-Hongkong-Macau-Variante.
Die Tatsache, dass die in diesen beiden Programmen hervorgehobenen Mundarten streng nach Verwaltungseinheiten kategorisiert sind, erscheint nicht wissenschaftlich, da viele Han-Dialekte und ihre Unterdialekte zwischenregional gesprochen werden. Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass die präsentierte Brüderlichkeit zwischen diesen Dialekten und Unterdialekten, die normalerweise sozial benachteiligt sind, einen Bezug zu dem sowjetischen Modell hervorruft. In der Sowjetunion spielte Russisch eine absolut unbestreitbare Rolle, obwohl andere Sprachen immer präsent waren, aber nur mit nomineller Bedeutung.
Der deutschsprachige Eindruck auf Macau scheint sehr oft darauf reduziert zu werden, wie Wörter auf der anderen Seite der Welt manipuliert werden: Was wirklich hinten den Worten stellt ist leider oft übergegangen So zum Beispiel wird der internationale Status Macaus oft ignoriert und Macau als bloße chinesische Provinz betrachtet. Macau besitzt als konstitutionell selbstverwaltete Zone einen eigenen internationalen Status, einschließlich eines Flaggen-Emoji. Entlang meiner europäischen Jahre, bin ich sehr fasziniert von der regionale Sprachenvielfalt in Europa, obwohl sie heute gefährdet zu sein scheint. Dies ist der Ablauf einer gegenseitigen Spiegelung, die europäische, in diesem Fall deutsche Realität zu beobachten und somit die weitere chinesische Realitäten widerzuspiegeln. Ich hoffe, dass dieser Artikel Neugier wecken konnte, vor allem aber eine gewisse weltweite Solidarität was den Schutz der kulturellen Vielfalt und in diesem Fall der farbenfrohen und bedrohten Dialekte zu bestehen betrifft.
Der Originaltext wurde am 13. Januar 2021 in Macaus portugiesischsprachiger Zeitung „Jornal Tribuna de Macau“ veröffentlicht. Er war unterzeichnet zusammen mit Mathilde Denison Cheong. Der Text bestand zusätzlich aus einigen Passagen aus Mathildes unveröffentlichtem Werk „Sprachpolitik und Sprachplanung Chinas nach der Gründung der Volksrepublik,“ die hier nicht enthalten sind.
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