Ich möchte hier „Lebewohl, meine Konkubine“ vorstellen, ein Elfenbeinstück von meinen Vater Cheong Chi Fai, der in den 80er Jahren, dem goldenen Zeitalter der Elfenbeinschnitzerei, als Elfenbeinschnitzer in dem damals noch portugiesischen Macau arbeitete.
Das Kunstwerk besteht im Wesentlichen aus mehreren geschnitzten Elfenbeinstücken und hat eine ovale Grundfläche, die ungefähr 25 cm breit und 16 cm tief ist. Eine 16 cm hohe Laterne bildet den höchsten Punkt des Elfenbeinstücks. Ein traditionelles chinesisches Geländer umrahmt im Halbkreis zwei Figuren: Eine rechts halb-kniende Frau mit einem Schwert in der rechten Hand, die dem Betrachter das Gesicht zuwendet, und einen links hinter einem gedeckten Tisch sitzenden Mann. Die Körperhaltung der Frau weist darauf hin, dass sie mit dem Schwert dem Mann einen Tanz vorführt. Der Mann sitzt in voller Rüstung, aber in entspannter Haltung, und hält einen gefüllten Pokal in der Hand. Hinter den beiden Figuren befindet sich ein Wandschirm, an dem eine Laterne mit einem chinesischen Schriftzeichen hängt. Dieses Schriftzeichen stellt den Stammnamen des Mannes dar und zeigt, dass es sich bei dem Mann um einen König handelt. Auf der linken Seite hinter dem König sind mehrere traditionelle chinesische Waffen wie ein Köcher für Pfeile und ein Reitsattel, weiter hinten ein Bananenbaum und ein Stein als Dekoration. Auf der rechten Seite neben der Frau befinden sich eine Schnitzerei mit Pflanzen- und Blumenmotiven als Dekoration und ein Duftrauchbrenner.
In diesem Artikel wird sowohl die Verarbeitung der dargestellten Szene in der Kunst als auch die ursprüngliche Geschichte und einige Details zu diesem Schnitzwerk, sowie einige Inkohärenzen des Kunstwerks mit der chinesischen Geschichte vorgestellt.
„Lebewohl, meine Konkubine“ ist eine chinesische Sage, die aus einem historischen Ereignis im dritten Jahrhundert vor Christus stammt.
Aufgenommen wurde diese Sage in der Romanze „Lebewohl, meine Konkubine“ von der berühmten Hongkonger Schriftstellerin Lilian Lee. Vor einigen Jahren kaufte ich an Lissabons Bahnhof Estação do Oriente die portugiesische Übersetzung von José Luís Luna. Ehrlich gesagt habe ich diese Ausgabe von 1994 nur gekauft, weil das Titelbild meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Es war ein Bild aus der verfilmten Version des Buches („Lebewohl, meine Konkubine“, 1993). Das Bild entstammt einer Szene des Films, in der eine sehr berühmte Interpretation dieser Sage in der Peking-Oper aufgeführt wird. Die Rolle von „Yü der Schönen“ wird in dieser Szene von dem Hongkonger Schauspieler Leslie Cheung (1956-2004) – meinem Idol – gespielt. Dieser Film, übrigens eine Koproduktion von China und Hongkong, erhielt 1993 als erster und einziger chinesischer Film die Palme d’Or. Die verfilmte Geschichte, einschließlich des Pekinger Opernstücks in dem Film, erreichte damit die ganze Welt.
An dieser Stelle möchte ich nur eine kleine Besonderheit über Leslie Cheung erzählen, bevor ich mit der Geschichte von Yü fortfahre: Man kann sagen, dass Leslie Cheung die Tragödie von Yü der Schönen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Films dreimal nachspielte: Das erste Mal geschah es, als die Figur „Yü die Schöne“, die Leslie Cheung in einem Pekinger Opernstück in dem Films spielt, sich ihr eigenes Leben vor König Xiàng Yǔ (Hong Ü, auf Kantonesisch, 232-202 v. Chr.) nimmt; das zweite Mal, als der Protagonist sich am Ende des Films selbst umbringt; das dritte ereignete sich in Wirklichkeit – Leslie Cheung nahm sich im Jahre 2004 in Hongkong sein Leben.
Die Handlung der Sage von Yü der Schönen ist die folgende: König Xiàng Yǔ, der wegen seiner bevorstehenden Niederlage gegenüber feindlichen Truppen niedergeschlagen ist, will die letzten Momente seines Lebens mit seiner Lebensgefährtin, der schönen Yü, verbringen. Wir sind im Jahr 202 v. Chr.
Singend trägt der König dieses Gedicht vor:
„Meine Kraft entwurzelte Berge,
die Welt überzog mein Tatendrang!
Die Zeit erweist sich nicht günstig –
der Schecke stockt im Gang.
Stockt der Schecke im Gang,
was bleibt mir zu tun?
Yu, ach Yu,
was wird aus dir werden?“
So übersetzte Volker Klöpsch dieses berühmte Gedicht aus dem klassischem Chinesisch, das ich in der Schule auf Kantonesisch zu rezitieren lernte. Bevor sie ihr Leben beendet, um ihre absolute Treue gegenüber dem König auszudrücken, antwortet Yü die Schöne ebenfalls mit einem gesungenen Gedicht:
„The foes have overrun our land;
From all around they sing our song.
With might and main my lord can’t stand.
Could a frail woman turn out strong!“*
Dieses Gedicht gibt es in mehreren Übersetzungen auf Deutsch, aber ich konnte mich mit keiner von ihnen anfreunden. Ich entschied mich daher für diese bekannte englische Version des chinesischen Übersetzers Xǔ Yuānchōng.
Das war die kurze Darstellung des literarischen Werkes, aus dem das von meinem Vater in den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgeführte Stück aus Elfenbein stammt.
Kommen wir nun zu dem Thema, welches uns interessiert: Ich habe das Gefühl, dass es im Laufe der chinesischen Geschichte einen ständigen „Präzisionsmangel“ bei kulturellen Reproduktionen gab. Ich werde das im Folgenden erklären. Dieses Kunstwerk meines Vaters, das eine Szene darstellt, in der Yü die Schöne für König Xiàng Yǔ einen Schwerttanz ausführt, basiert auf einer Zeichnung, die 1978 von der bekannten und insolventen „Peking Art and Craft Factory“ gedruckt wurde.
Hier kommen die Inkohärenzen ins Spiel. Erstens ist die Rüstung des Königs nicht mit den Kleidungsstücken vergleichbar, die im 3. Jahrhundert vor Christus existierten. Und ich sage dies basierend auf dem, was ich im Gymnasium mit (den in Hongkong veröffentlichten) Lehrbüchern über die chinesische Geschichte lernte. Zudem gehört Yüs Kostüm auch nicht zur historischen Ära ihrer Lebenszeit.
Natürlich bin ich kein Experte auf diesem Gebiet, aber die Rüstung des Königs und die Roben seiner Lebensgefährtin versetzen mich in die Meisterwerke der Popkultur, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Kostümdesignern aus Hongkong und dem Festland China mit starkem traditionellen Einfluss chinesischer Opern geschaffen wurden. Ich würde sagen, dass dieser „Präzisionsmangel“ einfach auf die kulturelle Funktion zurückzuführen ist, die jeder Schnitzerei zugeschrieben wird. Es gibt nämlich Kunstwerke, die nicht historisch korrekt ausgeführt sind, aber dennoch mehr als bloß der Dekoration dienen. Viele Kunstwerke versetzen historische Geschichten bewusst in unsere Zeit, damit uns dies zum Nachdenken anregt und uns die Aktualität der Geschichten vorführt. Zu diesen Kunstwerken würde ich persönlich das Schnitzwerk meines Vaters (oder die oben beschriebene Zeichnung) rechnen. Indem man die Personen in eine bekannte Zeit versetzt, macht man es dem Betrachter leichter, sich mit der Person zu identifizieren.
Auch die Waffen, die sowohl in dem Stück „Lebewohl, meine Konkubine“, als auch in der Schnitzerei meines Vaters vorkommen, existierten zu Zeiten von Xiàng Yǔ nicht. Es sind bekannte Waffen aus der chinesischen Kultur und Geschichte, dennoch kommen alle nur aus der Zeit nach dem Tode von Xiàng. Zum Beispiel kann man bei dem Kunstwerk meines Vaters den „Guānsglefe“ sehen, der sicherlich unseren aufmerksamen Lesern oder denen bekannt ist, die ein Interesse an den Gottheiten in Macau haben. Der Name dieser Waffe kommt von Guān Yǔ (Kuan Ü, auf Kantonesisch, ca. 160-220), einer historischen Figur, die in eine Gottheit verwandelt wurde und in Macau und Hongkong hoch verehrt ist. Guān Yǔ wird zum Beispiel von Polizeikräften und Geheimgesellschaften als Idol verehrt, da er für Ergebenheit, Selbstlosigkeit und Brüderlichkeit steht.
Nach allem, was wir durch archäologischen Entdeckungen wissen, scheint diese Waffe ursprünglich nur im Songs China (960-1279) angewendet worden zu sein. Die Glefe war vor allem eine literarische Schöpfung aus „Der Drei Reiche. Roman aus dem alten China“ des 14. Jahrhunderts und ist heute das Symbol von Guān, das überall in Macau zu sehen ist. In dem Film „The Lost Bladesman“ (2011), einer Koproduktion Hongkongs und Festland Chinas unter der Regie von Alan Mak und Felix Chong, verwendet die Hauptfigur Guān (gespielt von Donnie Yen) genau diese Glefe im Gegensatz zu seinen Feinden, welche sich mit Speeren verteidigen.
Ein weiteres Detail zu dem Kunstwerk meines Vaters: Die Laterne, ebenfalls aus Elfenbein, enthält eine kleine Lampe im Inneren. Dort ist das Schriftzeichen des Stammnamens des Königs eingraviert: Xiàng: 項. Hier scheint es eine weitere Inkohärenz zu geben. Bis heute haben sich die Feldzeichen dieser historischen Zeit normalerweise nicht erhalten können. Das Schriftzeichen Xiàng, das mein Vater in dieses Kunstwerk eingravierte, ist im Stil der modernen Schrift gestaltet, die frühestens im China des 12. Jahrhunderts erschien. Das ist also ein Unterschied von einem Jahrtausend. Ich würde vermuten, dass es nicht die Absicht meines Vaters oder des Schaffers der Zeichnung war, das Schriftzeichen kohärent zu machen. Der Künstler der Originalzeichnung hat höchstwahrscheinlich ein modernes Schriftzeichen genommen, damit auch Menschen der heutigen Zeit wissen, um welchen König es sich bei der Figur handelt.
Die Geschichte von König Xiàng ist viele Male verarbeitet worden. Dabei haben sich einige Spekulation über das genaue Schicksal Yüs der Schönen herausgebildet. Das Geschichtsbuch, das als erstes Chinas betrachtet wird („Aus den Aufzeichnungen des Chronisten“ aus dem 1. Jahrhunderts v. Chr., Shiji, oder Si Kei auf Kantonesisch, „Records of the Grand Historian“ oder auf Spanisch, „Memorias históricas“) erklärt nämlich nicht, wie die Lebensgefährtin Xiàngs starb.
Die bekannteste Legende berichtet, dass Yü sich umbrachte, indem sie sich mit einem Schwert die Kehle durchschnitt.
Diese Legende, die im Laufe der Geschichte neue Konturen erlangte, kristallisierte sich auch aus dem schon erwähnten Stück des Pekinger Opernmeisters und Sängers Mei Lanfang (Mui Lan Fong, auf Kantonesisch, 1894-1961) heraus, das 1918 neu geschrieben wurde. Mei selbst wird bei Lilian Lees literarischer Fassung durch den Protagonisten des Romans verkörpert, gespielt von Leslie Cheung in der Verfilmung von Chen Kaige (Chan Hoi Ko, auf Kantonesisch).
Auch in „The War between Chu and Han“ (1957), einem anderen Film, der den Tod der Lebensgefährtin darstellt und in dem Tang Bik-wan (1924-1991) die Rolle der Yü spielt, begeht Yü Selbstmord mit einem Schwert, indem sie sich die Kehle durchschneidet. „The War between Chu and Han“ ist das Filmgenre Hongkongs der Nachkriegszeit – die Verfilmung eines kantonesischen Opernstücks. Dieser Film wurde nach Vorlage des ursprünglichen Pekinger Opernstück geschaffen, deswegen ist es nicht überraschend, dass die Selbstmordmethoden identisch dargestellt werden.
In dem vom chinesischen Festland und Hongkong gemeinsam produzierten Film „The Last Supper“ (2012) von Lù Chuān (Lok Chün) tötet sich Yü die Schöne, gespielt von der kantonesischen Schauspielerin Hé Dùjuān (Ho Tou Kün), mit einem Dolch in die Brust. Es klingt überraschend, aber wie gesagt, wurde Yüs Schicksal in dem „ältesten“ Buch in der Geschichte Chinas, das ein Jahrhundert nach dem Tod und der Niederlage Königs Xiàng Yǔ geschrieben wurde, nicht erwähnt.
Die Geschichten von „Lebewohl, meine Konkubine“ und König Xiàng Yǔ sind in Greater China außerordentlich bekannt. Natürlich folgt Macau auch diesem Phänomen, nicht zuletzt, weil zahlreiche Filme, Serien oder Videospiele mit dieser Geschichte als Inspiration entstanden sind. Im Dezember letzten Jahres organisierte die Rui Cunha Foundation in Macau eine Veranstaltung mit dem Titel „Oper in Literatur: ‚Lebewohl, meine Konkubine’ von Lilian Lee“. Der frühere Abgeordnete Paul Chan Wai Chi schrieb auch in einem seiner Artikel für die Zeitung Hoje Macau über die Geschichte. Ich hoffe, dass ich dem Leser diese bedeutende Geschichte anhand des Kunstwerks meines Vater etwas näher bringen konnte und des Lesers Interesse für die unzähligen künstlerischen Verarbeitungen der Sage wecken konnte.
*In der deutschen Übersetzung von Lees Romanze wird das Gedicht wie folgt aus dem Englischen übersetzt:
„Feindliche Truppen umringen uns,
Spottend singen sie die Gesänge von Chu.
Mein Herz ist verdammt.
Wie soll ich da leben?“
Der Originaltext auf Portugiesisch wurde auf “Extramuros” veröffentlicht. Diese verbesserte deutsche Version ist dank Charlotte Lucke, Charlotte Schmidt, Marie-Christien Behr und Sarah Preller zur Verfügung. Ein besonderer Dank geht an Lucke für ihre akribischen und wertvollen Vorschläge, die deutsche Übersetzung viel kohärenter als den Originalartikel zu machen. Der Autor übernimmt jedoch alle Verantwortlichkeiten allein. Die kantonesische Umschrift entspricht dem offiziellen Romanisierungssystem von Macau.
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