Bevor ich Jonathan Burgess kennenlernte, war mir gar nicht klar, dass es in Kalifornien Sklaven gab. Ich wusste bis dahin nur, dass Kalifornien 1850 als sogenannter ‚Free State‘ der 31. Bundesstaat der Union wurde. ‚Free State‘ hieß für mich, ein Bundesstaat in dem Sklavenhaltung verboten war. Doch für meinem Besuch hatte der Feuerwehrmann aus Kaliforniens Hauptstadt Sacramento auf seinem Wohnzimmertisch Urkunden, Fotos, die Familienbibel, Zeitungsartikel und andere Dokumente ausgebreitet, die beweisen, dass Vorfahren von ihm versklavt aus den Südstaaten an die Westküste kamen.
In Kaliforniens Verfassung steht ausdrücklich: “Weder Sklaverei noch unfreiwillige Knechtschaft soll jemals in diesem Staat toleriert werden – außer als Bestrafung für Verbrechen.“ Was auf dem Papier sehr klar aussieht, ist in Wirklichkeit viel komplizierter. Spuren der unrühmlichen Geschichte von Sklavenhaltung in Kalifornien fand ich mit Jonathans Hilfe in Coloma, wo 1848 der kalifornische Goldrausch ausbrach. Das Dorf liegt östlich von Sacramento am American River. Die Gegend erinnert mich sehr an den Schwarzwald, in dessen Nähe ich aufgewachsen bin: Berge mit sonnigen Wiesen, dunklen Wäldern und Bächen, an denen im Frühling zwischen moosbedeckten Felsen Maiglöckchen und Brombeerbüsche blühen.
Die Gründer Kaliforniens zeigten Verständnis für die Sklavenhalter
Im Januar 1848 entdeckte hier Zimmermann James Marshall beim Bau eines Sägewerks erbsengroße Goldklumpen im Fluss. Die Nachricht vom sensationellen Fund verbreitete sich schnell, und wenige Monate später standen hunderte Goldgräber mit ihren Pfannen zum Goldwaschen im eiskalten Wasser, darunter auch Glücksjäger aus den Südstaaten. „Und die brachten natürlich ihre Sklaven mit, “ erzählte mir Jonathan. „Warum sollten sie sich selbst im Fluss über Pfannen bücken, wenn bisher immer andere für sie arbeiteten? Und selbst wenn sie auch selbst suchen, kann es ja nicht schaden, wenn jemand kostenlos mithilft.“ Die anderen Goldgräber waren allerdings nicht begeistert von der unbezahlten Konkurrenz und machten Ärger. Doch die Gründer Kaliforniens zeigten Verständnis mit den Sklavenhaltern. Sie gaben ihnen ein Jahr Zeit, ihren ‚Besitz‘ in den Bundesstaat, aus dem sie gekommen waren, zurückzubringen und verabschiedeten außerdem eine eigene Version des Bundesgesetzes für ‚Sklaven auf der Flucht‘. Das verpflichtete kalifornische Sheriffs dazu, Schwarze, die ohne ihre Freilassungspapiere angetroffen wurden, festzunehmen und zu ihren Eigentümern zurückzubringen. Diese Gesetze wurden mehrmals bis zum Jahr 1856 verlängert, und mindestens so lange wurden Menschen auch in Kalifornien als Sklaven missbraucht.
Einer der Männer, der versklavt nach Coloma kam, war Jonathan Burgess‘ Ururgroßvater, Rufus Burgess. Er wurde in Virginia an der US-Ostküste in Sklavenhaltung geboren, mehrmals verkauft, bis er in New Orleans landete und von dort mit seinem Besitzer nach Kalifornien zum Goldrausch kam. Rufus erwarb wenig später für sich und seine Familie die Freiheit, arbeitete als Schmied und kaufte ein Stück Land. Das alles hielt er in einem handgeschriebenen Lebenslauf fest, der über Generationen mit der Burgess-Familienbibel vererbt wurde.
Im Park, der inzwischen zur Erinnerung an den Goldrausch angelegt wurde, ist von dieser Geschichte kaum etwas zu finden. Doch dank Jonathans Einsatz und der kalifornischen Task Force für Reparationen kommt sie langsam ans Licht.
Die Task Force wurde im September 2020 eingerichtet und ist die erste ihrer Art in einem US-Bundesstaat. Ihre neun ehrenamtlichen Mitglieder sammeln Daten, Fakten und Geschichten von Ungerechtigkeiten, unter denen Schwarze in den USA über mehr als 400 Jahre gelitten haben. Im Juni wird sie in einem Zwischenbericht erstmals Empfehlungen dafür aussprechen, wer Anspruch auf Reparationen hat und wer welche Entschädigung bekommen sollte. Klar ist bereits eins: Vorrang sollen die Nachfahren von ehemals versklavten Afroamerikanern haben.
Geschichte wird von Siegern geschrieben
Jonathan Burgess begrüßt diese Entwicklung sehr. Doch mindestens genauso wichtig wie materielle Entschädigung für Leid, das seinen Vorfahren angetan wurde, ist ihm, dass die Geschichte seiner Familie fester Bestandteil dessen wird, was in Schulen und anderswo über kalifornische Pioniere unterrichtet wird. Dazu gehört auch, dass nach Ende des Goldrauschs afroamerikanische Familien, die ihre Freiheit erlangt hatten, in Coloma eine blühende Gemeinde mit ertragreichen Feldern und Obstplantagen anlegten. Diese Gemeinde wurde 1948 zerstört, als der Bundesstaat Kalifornien das Gelände als unbewohnbar erklärte und Enteignungen anordnete, um an dieser Stelle einen Park zur Erinnerung an den ersten Goldfund zu errichten. „Davon findet man nichts in Geschichtsbüchern und nur wenig tief vergraben in Archiven. Geschichte wird von Siegern geschrieben, “ sagt Jonathan mit Frustration aber auch Kampfgeist in der Stimme. „Die Sieger hatten in der US-Geschichte selten eine gute Meinung von Menschen mit meiner Hautfarbe.“