Tussikratie? Was soll das denn sein? Auf dem Einband des Buches steht es hinten drauf, was das sein soll. Verkürzt und etwas provokativ:
1. pseudofeministische, eigentlich aber sexistische Diskursherrschaft 2. Weltbild, in dem Männer a) das traurige Beiwerk oder b) übermächtige Gegner sind 3. Verschleierung von Klassendifferenzen als Frauenproblem
Was dem Buch wahrscheinlich am allermeisten schadet, ist das Feindbild, das die Autorinnen konstruiert haben. Es prangt vom Titel, der Teaser, vermutlich nicht von ihnen, lässt schlimmstes vermuten. Frau Dingens mutmaßte in ihrem Stern-Blog, die "Tussi", das sei eben die Feministin. Das ist aber falsch, was sie hätte wissen können, hätte sie das Buch auch gelesen, über das sie schrieb.
Am Anfang tat ich mich selbst schwer mit dem Feindbild. Das Vorwort war für mich nicht leicht zu lesen, denn dort definieren sie dieses Feindbild genauer aus und ich bin eigentlich immer eher geneigt, in der Sache zu debattieren und nicht entlang eines Feindes - der in diesem Fall ja auch noch konstruiert ist.
Aber im Laufe des Lesens merkte ich, was damit bezweckt wird: Die "Tussi" ist nur das Konstrastmittel, mit dem die Geschwüre in den Gedärmen der Gesellschaft sichtbar gemacht werden. Das wird deutlich, wenn sie im Laufe des Buches immer seltener auftaucht, weil die Autorinnen an der Sache diskutieren und die gesellschaftliche Lage beleuchten - aber eben doch immer wieder nötig um darauf hinzuweisen, dass die "Tussi"-Argumente, die ja real existieren, in der Debatte nicht zu der Lösung des Problems führen, sondern schlimmstenfalls nur neue Probleme eröffnen. Die "Tussi" ist für mich daher eher so ein Weberscher Idealtypus, den es so natürlich in Reinform gar nicht gibt, der aber dazu führt, dass Verschwommenes differenziert werden, diskutierbar gemacht werden kann.
Im Großen und Ganzen bin ich dann ganz bei den beiden Autorinnen, aber das ist auch kein Wunder, denn ich gelte eh als "männerfreundliche" Feministin und dieser Titel ist nicht nett gemeint. Aber ich nehme ihn als "nett", denn ich finde das kein Vergehen.
Kommen wir zu ein paar inhaltlichen Ausschnitten aus dem Buch, angefangen mit dem Kapitel: "Gehirnpop. Was uns die Natur (nicht) über Männer und Frauen lehrt" von Theresa Bäuerlein. Mit Neurobiologie beschäftige ich mich selbst seit vielen Jahren. Ich habe drei Jahre lang Biologie studiert und deswegen geht mir das Verständnis dafür nicht ab. Die Autorinnen wagen sich auch auf das Gebiet und haben sich Mühe gemacht, den aktuellen Stand der Debatte wiederzugeben. Heraus kam unter anderem, dass Männer- und Frauenhirne derzeit nicht gleich sind - eine Erkenntnis, die in die Sozialwissenschaften oft nicht hineingelassen wird. Der Satz "Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern lassen sich zwar teilweise verallgemeinern - aber nur im Durchschnitt" ist ein Volltreffer. Ich war einmal zu Gast in einem Vortrag von Manfred Spitzer zu genau diesem Thema und er differenzierte gut, dass bestimmte Verhaltensweisen nachweislich durch den Stereotype Threat erzeugt werden und andere wohl eher angeboren sein müssten. Am Ende fragte ich ihn, was er denke: Ob auch dann, wenn alle Kinder gleich aufgezogen und keine geschlechtergetrennten Rollenstereotype mehr vermittelt würden, ob dann nicht vielleicht die Unterschiede in den Erwachsenen-Gehirnen anders ausfallen könnten. Seine ehrliche Antwort: "Das kann man nicht wissen." Das trifft auch etwa die Erkenntnisse von Lise Eliot, die ich in "Tussikratie" zum ersten Mal traf - ein wichtiger Lesetipp, der an mir trotz Faible für Neurodiskurse zu dem Thema bislang vorbeigegangen war. Danke! "Etwas muss also in der Zeit der Heranwachsens passieren, das die Gräben zwischen den Geschlechtern aufreißen lässt", denkt Theresa Bäuerlein und hier einzugestehen, dass wir nicht genau wissen, *was* von diesem Etwas Nature ist, und was Nurture - das ist so schwer, für Biologie wie für Gender Studies. Dabei wäre es so wichtig zu sagen: Wir wissen es nicht, wir *können* es noch nicht wissen. Auch weil man damit wieder mehr Möglichkeiten schafft, mehr Freiräume und weniger Vergnatztheit.
Das Kapitel "Wer zieht in Barbies Traumhaus. Von Freiheit, die sich nach freiem Fall anfühlt und Gräben, die schon im Kindergarten gezogen werden." geht weiter um die Sozialisation entlang von Geschlechterstereotypen. Handelt darüber hinaus aber auch davon, was daraus für die spätere Berufswahl folgt. Es ist ein klassisch feministisches "Ding", die Abwertung der "Frauenberufe" zu beklagen. Spannend fand ich aber den Dreh von Bäuerlein, den ich so noch nicht wirklich zu Ende gedacht habe (es war eher so ein Verdacht, der reifte): Dass wir Frauen anfangen, die "Frauenberufe" selbst gleich mit abzuwerten, wenn wir fordern, dass jetzt mal die Männer da ran müssten. Das ist ein sehr wichtiger Hinweis. Und das ist auch ein gutes Beispiel, an dem man verdeutlichen kann, was "Tussikratie" will: Es will hinter die Diskurse blicken und wissen, ob das typische "Frauenargument" zu einer bestimmten Thematik eigentlich logisch und hilfreich ist. Erst gestern las ich im Guardian "Motherhood has become a Olympic Sport" und kann nicht anders, als zu fragen: Woran liegt das denn? Weil Frauen heute von der Gesellschaft so böse unter Druck gesetzt werden, und von Männern komplett allein gelassen mit den Aufgaben der Kindererziehung? - Ja, das war einmal das Hauptargument, aber das ist im Aufweichen. Der Guardian-Artikel behandelt den Fall Ayelet Waldman, die 2005 einmal gewagt hatte zu behaupten, dass sie ihren Mann mehr liebt, als ihre Kinder. Shitstorm! Drohungen! Wütende Mailfluten! Heute steht sie da und sagt, es sei ein irrwitziger Wettbewerb geworden, zwischen Müttern und wer von ihnen die beste sei. Das beste Kind, die besten selbstgenähten Kleidchen, die besten Kuchen zum Basar in der Schule - die größte Selbstaufopferung. Der Witz ist: Das ist nicht nur ein Frauen- oder Mütterproblem. In "Allein unter Müttern" beschreibt Tillman Bendikowski, wie jeder Mensch, der sich um Kinder kümmert, in so einen Strudel gerät. Er beschreibt, was viele in der Debatte nicht sehen wollen: Es sind die Frauen selbst, die diesen massiven Druck aufbauen und den Wettbewerb ausrufen. Sie führen das Regiment. Und ich kenne einige Väter, die in die Sache einzustimmen beginnen, wenn sie selbst sich auch mehr um den Nachwuchs kümmern. Es ist keine Frage des Geschlechts, es gibt dahinter eine Ebene, die mit anderen Prämissen diesen Druck und Wahnsinn erzeugt: Der gesellschaftliche Wettbewerb, der schon bei kleinen Kindern anfängt und der Eltern irrwitzig handeln lässt (lesenswert dazu der Artikel von Friederike Haupt in der FAZ über Eltern, die meinen, ihr Kind sei hochbegabt).
Zurück zum Buch und kommen wir zum Kapitel "Zu eng gezirkelt. Über die Gemeinsamkeiten von Frauenzirkeln und Old Boys Network und (tatsächlich!) Anti-Harassment-Strategien" von Friederike Knüpling: Interessant fand ich es, Lisa kennen zu lernen, die von einem Ladies Lunch berichtet, bei dem die Frauen sich allesamt einig waren, dass sie Opfer sind und dass man unbedingt dafür sorgen müsse, dass sie einen Ausgleich erfuhren. Etwa Erleichterungen bei der Doktorarbeit, was auf Lisa sehr befremdlich wirkte. Allerdings muss ich hier einwerfen, dass ich durchaus auch andere, differenziertere Ladies Lunche kennen gelernt habe (zum Beispiel bei der Heinrich-Böll-Stiftung). Solche, in denen nicht mehr schematisch gedacht wird: Frauen müssen selbstständig sein - deswegen Karriere machen - deswegen pauschal alle Erleichterungen bekommen, etwa bei der Doktorarbeit, weil sie alleinerziehende Mütter sind. Damit will ich überhaupt nicht kleinreden, dass ich finde, dass Alleinerziehende Mütter und ihre Sorgen und Probleme, die Hürden, die sich vor ihnen aufbauen, kein wichtiger Indikator für die Missstände in der Gesellschaft sind. Aber sie sind eben genau das: Ein Indikator für Missstände, die viele Gruppen betreffen und nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Nur trifft es die Alleinerziehenden oftmals am schlimmsten.
Im Kapitel "Wer will hier der Boss sein? Über Karriere-Wünsche, die zur hohlen Form werden und Glück, das sich nicht beziffern lässt" geht unter anderem um Sheryl Sandberg... ich habe ihr Buch ja gelesen und ich bin auch grundsätzlich der Meinung, dass es wichtig ist und dass es seine Berechtigung hat, um Einblick in das zu gewinnen, was in großen Unternehmen, Startups und Milliardenfirmen wie Facebook eigentlich läuft, wie dort der Wind weht und wie man sich dort anzupassen hat, um weiterzukommen. Sie beschreibt das alles wunderbar und akkurat und ihr toller Tipp, eben einfach den "richtigen" Mann zu heiraten, nämlich den, der zuhause bei den Kindern bleibt, zeigt eigentlich auch schon automatisch auf die Grenzen ihrer Thesen und Ratschläge. Sicher muss eine neue Arbeitswelt gedacht werden, in der nicht nur die glücklich und erfolgreich sind, die es lieben, sich für ihren Job zu verausgaben, sondern in der andere Lebensmodelle gleichwertig lebbar sind, ohne an der Armutsgrenze zu leben. Das ist es auch, was Friederike Knüpling fordert. Ich denke, dass sehr viele Menschen - unabhängig von ihrem Geschlecht - anfangen dies zu denken, zu fordern und selbst zu leben. Aber wir stehen natürlich noch am Anfang der Entwicklung. Das ist auch der Punkt von Friederike Knüpling, die statt der ständigen Karrierefrage einmal die Frage nach Glück und dem guten Leben in den Raum wirft, wie viele das von Antje Schrupp schon kennen. Und das ist auch gut so!
Sehr witzig fand ich Theresas Auseinandersetzung mit den Verhütungsfragen im Kapitel "Quadrillionen aggressiver Spermien. Wie die Pille vom Freiheitsmittel zur Verpflichtung wurde, und warum Männer angeblich selbst schuld sind, wenn sie Sex haben". Auch hier wieder: Ein klassisches feministisches Thema, das schon X Mal durchgesprochen wurde, aber ein neuer Dreh. Ich musste sehr über die "Pharma"-Macker von Julia Seeliger lachen, die als das enttarnt werden, was sie sind: Eine leicht absurde Verschwörungstheorie (an die Julia nach eigenen Angaben aber auch nicht wirklich glaubt; sie hat sich von den Aussagen in diesem Text distanziert). Aber: Dass es die Pille für den Mann nicht gibt, bleibt natürlich seltsam. Sicherlich muss eins sich deswegen nicht gleich die große Verschwörung gegen die Frauen ausdenken. Dass es vor allem die Frauen sind, die sich ohne groß nachzufragen, die Pille einwerfen, wird eben nicht mit erwähnt, wenn die Männer gebasht werden, weil sie keinen Markt für eine Spritze schaffen wollen. Dass es die Frauen sind, die konsumieren und damit den Markt für die Pille einfach konkurrenzlos bleiben lassen - wen kümmern diese Details? Sicher: Es mag den Mann geben, der Druck auf eine Frau ausübt, weil er Kondome findet wie "Streicheln mit Gummihandschuhen" (die Worte eines Freundes von Theresa). Aber dann hat man mit solchen eben keinen Sex. Theresa Bäuerlein erklärt gleich mit dazu, dass und wie das geht, wenn es sein muss.
Die Porno-Debatte ist in meinen Augen im Kapitel "Wer hat Angst vor Porno" auch sehr gut dargestellt gewesen. Auch wenn ich selbst doch meistens sehr viel kritischere Worte dafür finde, was dort passiert. Aber das liegt auch an persönlichen Erlebnissen. Man ist in seiner Perspektive einfach zu sehr durch seine eigenen Erfahrungen geprägt, und ich bin eben durch meine Erfahrungen ein eher verklemmter Mensch. Allerdings bei großer Aufgeschlossenheit für Unverklemmte. Es geht für mich bei Pornographie nicht in erster Linie darum, dass alles falsch sei was dargestellt wird. Es geht mir vielmehr darum, dass scheinbar nichts anderes dargestellt wird, dass soviel Fantasie und so viele Möglichkeiten und Zwischentöne einfach verloren gehen. Es geht mir nicht darum Dinge die im Pornofilm bislang typischerweise und zu 90 % dargestellt wurden, zu verbieten oder schlecht zu reden. Ein Blowjob hat eine Daseinsberechtigung. Aber genauso hat der Cunnilingus eine Daseinsberechtigung. Den einen sehen wir tausendfach, den anderen müssen wir mit der Lupe suchen gehen und genau das ist das Problem. Es ist oft so, das nicht dass das Problem ist, was wir sehen und was vorhanden ist. Sondern die Probleme entstehen mit den Lücken, die nicht gefüllt werden. So entsteht eine Einseitigkeit, die nicht der Realität gerecht werden kann und damit gleichzeitig eine neue Realität schafft. Ich habe nichts dagegen, wenn es Pornos gibt in denen Frauen untergeordnet zu Männern sind. Denn ich weiß, dass dies eine völlig "normale" Facette weiblicher Sexualität ist. Ich weiß, dass sich viele Frauen danach sehnen, hart angefasst und eben nicht auf Augenhöhe behandelt zu werden, denn im sexuellen leben viele Menschen - wie Theresa das sehr treffend nennt - das Testen von Grenzen aus. Sex ist oft das lustvolle Erleben von Grenzerfahrungen. Somit gehören viele der Spielarten von Sex, die von früheren Generationen von Feministinnen als pure Gewalt und oder Propaganda von Gewalt an Frauen angesehen wurde, für mich zu einem legitimen Repertoir an sexuellen Spielarten. Ich hätte schlichtweg gerne, dass neben diesen einem typischen Weg Pornographie zu betreiben, auch andere auf der Bildfläche erscheinen und zwar in größeren Zahlen und viel selbstverständlicher, als es bislang der Fall ist.
Das soll erst einmal an Einblick in das Buch genügen, denn sonst ufert mein Text schnell aus. Es wäre schön, wenn das Buch eine Debatte auslösen könnte. Es wäre schön, wenn sich möglichst viele Leute nicht vom Titel abschrecken ließen. Titel sind Schall und Rauch - wir kennen das von "Wir Alphamädchen" und ich erinnere mich gut, wie schnell damals viele ihr Urteil bildeten, ohne das Buch auch nur angerührt zu haben. Wie oft es mit dem zeitgleich erschienenen "Neue Deutsche Mädchen" durcheinandergeschmissen wurde.
Ich wünsche den Autorinnen eine dicke Haut. Ihre Fragen sind wichtig und richtig gestellt. Es ist ein bisschen, wie bei Willi Wiberg, ein Kinderbuch, das ich sehr liebe und das meine Kinder regelmäßig vorgelesen bekommen: Es gibt da eine Geschichte, die hat den Titel "Willi Wiberg spielt doch nicht mit Mädchen", denn kleine Jungen, die das tun, werden von den anderen Jungen ausgelacht. "Mädchen sind nämlich blöd und feige und..." heißt es da. "Ja, sie sagen so manches über die Mädchen. Was die *Mädchen* von Jungen halten, hören sie nicht mal, weil sie so laut schreien." Auf twitter schreien sie auch immer alle sehr laut und hören deswegen sehr wenig...