Viele Menschen kennen Phasen, in denen man sich gut ernährt, und Phasen, in denen man über die Stränge schlägt. Aber was ist punktuelles Frustessen und was eine beginnende Binge-Eating-Spirale? Essstörungs-Experte Ulrich Voderholzer über Warnsignale.
SZ-Magazin: Herr Voderholzer, die meisten Menschen hierzulande haben sich schon mal ein Stück Kuchen gegönnt, um sich in einer stressigen Situation ein gutes Gefühl zu geben. Ist das schon problematisch oder kann man das als Ausrutscher abtun?
Ulrich Voderholzer: Jeder Mensch war schon mal gefrustet, kennt vielleicht Einsamkeit oder einfach Langeweile. Wer mal versucht, diese negativen Gefühle mit Essen zu regulieren, ist nicht gleich krank. Essen regt das Belohnungssystem im Gehirn an, Dopamin wird ausgestoßen. Das gibt uns kurzfristig ein gutes Gefühl. Wenn sich aber ein regelhaftes Muster abzeichnet, können Probleme entstehen. Wer ständig seine Gefühle mit Essen reguliert, ist gefährdet, in ein gestörtes Essverhalten abzurutschen. Bei einer Binge-Eating-Störung ist es aber nicht bloß das eine Stück Kuchen zu viel. Da sprechen wir von richtigen Essattacken.
Also große Mengen an Essen innerhalb kurzer Zeit.
Ja, auch. Binge Eating hat viele Facetten. Es kann auch in Form des sogenannten »Grazing« auftreten: Betroffene essen ständig, etwa im halbstündigen Takt. Es gibt auch Patientinnen, die nach einem extremen Essanfall zwei Tage fasten. Das ist besonders negativ, weil dadurch Heißhunger und neue Essattacken ausgelöst werden. Typisch für einen solchen Essanfall ist, dass man die Kontrolle verliert. Betroffene können nicht mehr aufhören zu essen. Ein Beispiel wäre, dass nach so einer Essattacke drei oder vier Tafeln Schokolade weg sind. Mir hat eine Patientin erzählt, dass sie teilweise bis zu sieben Tafeln gegessen hat. Bei ihr bezogen sich die Essanfälle auf Schokolade. Die meisten Binge-Eating-Patienten essen aber wahllos alles, was da ist.
Sie sprachen vorhin von einem »regelhaften Muster«. Wie häufig müssen Essattacken vorkommen, dass man von einem Problem ausgehen kann?
In der Klassifikation der Binge-Eating-Störung wird bereits von einem krankhaften Muster ausgegangen, wenn man über einen Zeitraum von drei Monaten einmal in der Woche Essanfälle hat.
Wie weit entfernt sind Frustesser und Frustesserinnen von einer ausgewachsenen Binge Eating Disorder? Und gibt es Warnsignale, dass es zu kippen droht?
Die Grenze zwischen gesund und krank ist immer da anzusiedeln, wo ein Mensch Probleme bekommt – körperliche und/oder psychische. Das ist beim Binge Eating häufig die Gewichtszunahme, bis hin zur Adipositas. Es sind aber auch die negativen Scham- und Ekelgefühle durch diesen Kontrollverlust, die zu einer Depression führen können. Das Schlimme am Binge Eating ist, dass ein Teufelskreis entsteht. Kurzfristig werden positive Gefühle durch das Essen hervorgerufen. Aber durch den Kontrollverlust werden die negativen Gefühle in der Folge noch mehr verstärkt.
Leiden alle Betroffenen von Binge Eating unter Depressionen?
Nein, das kann man so nicht sagen. Häufig ist das zwar der Fall, es muss aber nicht immer mit Depressionen verbunden sein. Ursachen für Binge Eating können auch Stress, emotionale Labilität oder ein Trauma sein – 20 Prozent der Betroffenen haben ein Trauma erlebt, zum Beispiel körperlichen oder seelischen Missbrauch in der Kindheit.
Bei anderen Essstörungen wie Magersucht und Bulimie ist der Anteil der Frauen verhältnismäßig hoch. Ist das auch beim Binge Eating so?
Beim Binge Eating ist der Anteil von weiblichen und männlichen Betroffenen nicht so unausgeglichen. Bei der Anorexie beträgt das Verhältnis zehn zu eins, bei der Bulimie geht es sogar noch weiter auseinander, beim Binge Eating aber beträgt das Verhältnis eher zwei zu eins. Vor allem aber bleibt die Binge Eating Störung bei Männern viel häufiger unbehandelt, weil sie sich bei psychischen Problemen seltener Hilfe holen als Frauen.
Woran liegt das?
Binge Eating hat mit mangelnder Impulskontrolle zu tun. Eine Eigenschaft, die typisch für Männer ist. Sie leiden daher beispielsweise häufiger an Alkoholismus oder anderen Süchten. Die Bedeutung des Körpers, also die Attraktivität, spielt bei Frauen jedoch eine viel größere Rolle als bei Männern. Den eigenen Selbstwert über die Figur und das Aussehen zu definieren, das ist gesellschaftlich deutlich stärker bei Frauen als bei Männern verankert.
Die britische Psychoanalytikerin Susie Orbach kritisiert in ihrem Buch »Bodies. Im Kampf mit dem Körper« die Industriezweige, die mit den Körperunsicherheiten der Menschen Geld machen: die kosmetische Chirurgie, die Schönheitsindustrie und die Diätindustrie. Ist es das System, das krank macht?
Ich sehe diese Industriezweige ebenfalls in der Verantwortung. Die Schönheitsideale und die medial verbreitete Überbetonung des Körpers haben negative Einflüsse. Man suggeriert den Menschen, dass sie erfolgreich sind, wenn sie einen besonders schönen Körper haben. Diäten betrachten wir Ärzte deshalb kritisch, weil sie langfristig essgestörtes Verhalten fördern können. Es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen, die eine Diät beginnen, ein deutlich höheres Risiko haben, dass sich daraus eine Essstörung entwickelt. Man weiß auch, dass durch Diäten langanhaltende Veränderungen von appetitanregenden Hormonen im Gehirn nachweisbar sind, sodass es zum bekannten Jo-Jo-Phänomen kommen kann. Man nimmt zehn Kilo ab und danach 20 Kilo zu. Der Körper wird in der globalen Bilder- und Medienkultur überbetont. Gerade junge Menschen, die in der Selbstfindungsphase sind, vergleichen sich ganz stark mit anderen. Sie versuchen umso mehr dem Ideal zu entsprechen, dem man in den Medien begegnet. Ein fatales Beispiel dafür war Heidi Klums »Germany’s next Topmodel«. Wobei Heidi Klum hier aktuell widersprechen würde: Sie gab an, sich ab der Staffel 2021 für Inklusivität und Body Positivity einzusetzen.
Die Sendung steht seit Jahren in der Kritik, wird aber nicht abgesetzt – höchstwahrscheinlich aufgrund hoher Einschaltquoten.
Und die werden genau aus der Altersgruppe generiert, die in der Selbstfindungsphase ist. Mädchen im Alter von 15 und 16 Jahren sind am meisten anfällig dafür, eine Diät zu machen und eine Essstörung zu entwickeln. Sendungen wie diese suggerieren, dass es der Weg zum Erfolg im Leben ist, so auszusehen wie die teilnehmenden Models.
Susie Orbach beschreibt in ihrem Buch auch, dass sich Schlankheitswahn und Körperhass in den vergangenen Jahrzehnten enorm verbreitet hätten – exponentiell mit dem Aufstieg der sozialen Medien. Sie schreibt von einer Epidemie.
Die sozialen Medien sind aus meiner Sicht ein gewichtiger Faktor, aber nicht die alleinige Ursache des Problems. Es gibt die Tendenz, die sozialen Medien zu verteufeln. Dass sie grundsätzlich dick, dumm, krank und kurzsichtig machen – dem würde ich mich nicht anschließen. Ein anderer Faktor können zum Beispiel auch Fehler in der Erziehung sein: wenn Eltern Essen systematisch als Belohnung für positives Verhalten einsetzen. Oder wenn gesunde Ernährung und strukturiertes Essverhalten gar nicht erst vorgelebt werden.
Aber die Nutzung von sozialen Medien kann die Tendenz zu Essattacken nachweislich steigern. In einem wissenschaftlichen Review von Forschern der University of Austin in Texas vergleichen die Autoren acht Studien miteinander. Alle haben ergeben: Je mehr Zeit und Aufwand in Social Media gesteckt wurde, desto anfälliger waren Beteiligte, Binge-Eating-Symptome zu entwickeln. Ist das nicht eine erschreckende Evidenzlage?
Definitiv. Das Ergebnis dieser Studien war klar: Die sozialen Medien scheinen Binge Eating zu auszulösen. Der Vergleich des eigenen Körpers mit den Darstellungen in den sozialen Medien triggert negative Gefühle bei Betroffenen, das erzeugt wiederum den Kontrollverlust über das Essen, und danach fühlt man sich noch schlechter – das ist der erwähnte Teufelskreis. Es gibt aber auch positive Heilungsgeschichten in den sozialen Medien. Sie können Vorbildcharakter für Betroffene haben, angeleitete Selbsthilfe. Ich denke da an den Fall einer Influencerin, die sich mit ihrer Essstörung geoutet hat, weil sie es satt hatte, so zu tun, als wäre alles perfekt. Das ist eine positive Botschaft. Ich bin gegen eine Pauschalverurteilung der sozialen Medien.
Was würden Sie Eltern raten, die bei ihren Kindern Zeichen von ungesundem Essverhalten, bedingt durch Social Media, beobachten?
Bei den Jugendlichen, die wir therapieren, ist das Lernen von Medienkompetenz ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. Dazu gehört, genau hinzuschauen und die positiven Möglichkeiten, die Social Media bietet, zu nutzen – und sich von den negativen abzuwenden. Es wäre meines Erachtens nicht adäquat, einem Teenager das Handy wegzunehmen. Ist der Einfluss der vermeintlichen Idealbilder auf Instagram oder Tiktok nur noch schädlich, dann kann es beispielsweise ein Therapieziel sein, den Account zu löschen. Bei einer Patientin war dies der Fall, das ist aber sehr individuell.
Der vielbesprochene Gegentrend heißt »Body Positivity«. Die Idee dahinter: der Diätindustrie zu entsagen und die Ästhetik auch dickerer Körper zu betonen. Wie bewerten Sie diese Bewegung?
Die ursprüngliche Idee war eine größere Varianz von Attraktivität, was realistisch und sehr zu begrüßen ist. Eine Auslegung dahingehend, dass es kein Problem sei, übergewichtig oder adipös zu sein, finden wir Ärzte aber schwierig. Ebenso eine umgekehrte Stigmatisierung besonders schlanker Menschen. Grundsätzlich muss die Gesellschaft lernen, wie sie mit der ständigen Verfügbarkeit von Nahrung umgeht. Bildung und Erziehung werden dabei in Zukunft eine große Rolle spielen. Ein Achten auf ausgewogene Ernährung, strukturiertes Essverhalten und ausreichend Bewegung müssen von klein auf vermittelt werden.