Robin Huesmann steht in Sicherheitsschuhen und Anzug auf dem Dach der Papierfabrik. Sein Schlips weht im Wind. Vorn schlängelt sich zwischen den grünen Wiesen des Flusstals tiefblau die Oder, hinten erheben sich die Schornsteine einer Raffinerie. Geht es nach Huesmann, 39, dann werden von hier aus bald noch mehr Firmen zu sehen sein. Der Unternehmer will mit einem Innovationscampus nach Schwedt an der Oder locken. Nach der Wende hat sein Onkel die einst größte Papierfabrik der DDR gekauft und zum Produktionsstandort des heute über 170 Jahre alten Familienunternehmens Leipa gemacht. Nun will der Neffe, um Leipa in die Zukunft zu führen, von jungen Firmen lernen.
Selbstverständlich ist eine solche Offenheit im Mittelstand nicht. Das Bild des Hidden Champions, der aus den Tiefen der deutschen Provinz heraus den Weltmarkt dominiert, ohne sich auszutauschen, trifft immer noch auf viele zu. Nur wird diese Strategie in Zukunft immer weniger aufgehen. "Die Digitalisierung hat das Potenzial, viele Geschäftsmodelle nachhaltig zu zerstören", sagt die Professorin Nadine Kammerlander, die an der Wirtschaftsuniversität WHU den Lehrstuhl für Familienunternehmen leitet. Dazu kommen neue Kundenwünsche, wie sie etwa die Sharing-Economy weckt: Wenn Menschen Dinge nicht mehr besitzen wollen, sondern sie sich nur noch leihen, müssen ganze Industrien umdenken. "Auf diese extremen Veränderungen mit einem etablierten Team zu reagieren und nebenbei noch das Alltagsgeschäft zu bewältigen ist nahezu unmöglich", sagt Nadine Kammerlander. WHU-Wissenschaftler zeigen in Studien, wie wichtig da die Zusammenarbeit von Familienunternehmen und Start-ups ist - für beide Seiten.
Die Corona-Pandemie erhöht noch den Druck, sich zu öffnen. Kammerlander geht davon aus, dass sich in den nächsten Jahren ein tiefer Graben auftun wird: zwischen den Unternehmen, die sich neu organisiert haben und profitieren. Und denen, die dies versäumt haben - und für die es eventuell bald zu spät sein wird. "Ich fürchte, dass viele Mittelständler es nicht schaffen werden", sagt die Wissenschaftlerin. Zugleich hat sie eine gute Nachricht: Die WHU-Forscher haben Familienfirmen vor und während der Corona-Krise zu ihrer Bereitschaft befragt, mit neuen Partnern zusammenzuarbeiten. Durch den Schock der Pandemie und seine Folgen sind viele Unternehmen offener für neue Allianzen geworden.
Einige machen vor, wie eine Zusammenarbeit mit Start-ups funktionieren kann. Etwa der Heizungsbauer Viessmann und das Logistikunternehmen Fiege, die Anfang des Jahres den sogenannten Maschinenraum in Berlin-Mitte eröffnet haben. Im Hinterhof eines Gründerzeitaltbaus liegt die schick ausgebaute alte Schuhfabrik, aus der heraus sich 20 Mittelständler miteinander und mit der Start-up-Szene der Hauptstadt vernetzen. Ein weiteres Beispiel ist Katjes: Mit der Investmentgesellschaft Katjesgreenfoods baut das Unternehmen eine Gruppe nachhaltiger Food-Start-ups auf. Oft sind es dabei die jungen Nachfolgerinnen und Nachfolger in Familienfirmen, die die Brücken in die Start-up-Welt bauen - mit einer Offenheit und Neugier, die ihren Eltern fehlt.
Modell 1: Passende Start-ups anlockenRobin Huesmann von Leipa sieht sich schon eine Weile nach neuen Partnern um. Leipa beschäftigt im Werk in Schwedt über tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, insgesamt sind es 1700. Der Unternehmer steht nun in der Produktion neben einer gigantischen Anlage, die eine ganze Fabrikhalle füllt: der PM 5. Es ist heiß, feucht und laut. Walzen drehen sich, pressen Wasser aus Papiermatsch, drehen das fertige Papier zu einer riesigen Rolle, innen braun und außen weiß: eine bedruckbare Oberfläche für Wellpappe. Früher war die PM 5 eine Maschine für Zeitungsdruckpapier - bis das Zeitungsgeschäft dramatisch einbrach, weil die Medien digital wurden. "Jedes Jahr verlieren wir als Branche bei den grafischen Papieren, also den Papieren zum Bedrucken oder Beschreiben, sechs bis acht Prozent. Das ist richtig viel", sagt Huesmann. Wo alte Geschäftsfelder wegfallen, muss Leipa bestehende ausbauen und sich neue eröffnen.
der Nachfolger unter 40 finden Kooperationen mit Start-ups wichtig, um digitale Lösungen zu entwickeln.
Um nicht in "tradierten Denkmustern zu verharren" und tatsächlich neue Geschäftsmodelle zu finden, wie er sagt, hat Huesmann 2016 Rising Generation mitgegründet, eine Investmentfirma, über die Leipa sich an jungen Firmen beteiligt - etwa dem Münchner Start-up Adnymics. Der Papierproduzent macht knapp 40 Prozent des Umsatzes mit Werbeprospekten, Adnymics wiederum vertreibt die nächste Generation der Printwerbung: personalisierte Flyer als Paketbeilagen. Rising Generation hat bis heute 1,2 Millionen Euro in das Start-up gesteckt. Huesmann und Adnymics-Gründer Dominik Romer kennen sich über einen gemeinsamen Bekannten. Ein Glücksfall. "Die Familienunternehmen tun sich sehr schwer, passende Start-ups zu finden", sagt die Expertin Kammerlander. "Ein Tinder gibt es für diesen Bereich leider noch nicht."
Huesmann will frischen Wind für sein altehrwürdiges Unternehmen. "Wir müssen die Köpfe öffnen", sagt er. Das gilt auch für ihn selbst. Wenn Romer und Huesmann zusammen einen Leipa-Kunden besuchen, profitieren davon beide Seiten. Romer, weil er als Jungunternehmer allein kaum Chancen hätte, bei einem großen Discounter den Fuß in die Tür zu bekommen. Huesmann, weil er vom Start-up-Gründer Romer eine Gratisschulung in Sachen modernem Vertrieb bekommt. Der funktionierte beim Mittelständler lange Jahre über persönliche Beziehungen und den Preis - erst durch die Zusammenarbeit mit Adnymics wurde das Verkaufen zu einem systematischen Prozess.
Erfahrung und Kontakte sind das Wertvollste, was Leipa Adnymics bieten kann. "Nur mit Kapital werden die meisten Familienunternehmen andere Investoren am Markt, wie etwa Private-Equity-Firmen, nicht schlagen können", sagt die Forscherin Kammerlander. Als Adnymics sich mit dem Versuch, auf den US-amerikanischen Markt zu gehen, verhob und Mitarbeiter entließ, war Romer froh, bei Huesmann und seinen Geschäftsführer-Kollegen von Leipa nicht nur finanziell unterstützt zu werden. "Die Erfahrung der Unternehmer aus unserem Investorenkreis hat uns damals mehr geholfen als der Rat unseres Anwalts", sagt Romer.
Und wenn es hakt? Huesmann kann sich noch gut an den Moment erinnern, als im Urlaub sein Telefon klingelte: Adnymics habe eine hohe, dringend zu begleichende Rechnung bekommen; eine laufende Kapitalrunde müsse deswegen am nächsten Tag abgeschlossen sein - früher als geplant. Start-ups bräuchten schnelle Entscheidungen, sagt Nadine Kammerlander, aber Familienunternehmen seien da die besseren Partner als Konzerne. Bei Adnymics jedenfalls war das Geld rechtzeitig auf dem Konto.