Katia Sophia Ditzler

Medienkünstlerin, Autorin, Berlin

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Glosse

Ich habe 20 Mal das Universum gerettet - erschienen in: Die Epilog #10, 2021

Vor zweieinhalb Jahren, bei meiner Arbeit in einer Melbourner Virtual-Reality-Galerie,
schrieb ich Schulen an, um ihnen eine Zusammenarbeit anzubieten. Ungefähr 15 nutzten die Technologie bereits im Unterricht, auf eine Erkundungstour in archäologischen
Ausgrabungsstätten zu gehen war normal. Einige hatten die Entwicklung von VR optional in ihre Lehrpläne integriert, eine Schule hatte sogar ein dezidiertes VR- und AR-Programm.
Das war zu einer Zeit, in der in deutschen Radios monatlich Features darüber gesendet
wurde, wie unheimlich VR sei und dass die Menschheit den Bezug zur Realität noch mehr als ohnehin schon verlieren würde. An der legendären deutschen Technologiefeindlichkeit mag etwas dran sein.

Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass der digitale Raum nur eine Erweiterung des Realen darstellt, diesem nichts wegnimmt. Im zweiten Jahr der Pandemie spielt sich der größte Teil unseres kulturellen und sozialen Lebens im Digitalen ab.
Der VR-Markt wächst, auch ich wäre ohne meine Oculus Quest schlechter durch das letzte Jahr gekommen. Und ich ignoriere, dass ich sie mit meinem Facebookaccount verbinden musste, noch gläserner bin als zuvor. Eine Stanford-Studie fand 2020 heraus, dass fünf Minuten an VR-Bewegungsdaten genügen, um ein Individuum zu identifizieren. Und: Sollte der Account gesperrt werden, ließe sich das Headset nicht mehr verwenden. Mark Zuckerberg, der strenge Schulmeister, weiß, wie man subtil und gewaltlos diszipliniert.

VR ist Ausdruck der alten Sehnsucht, Realität künstlich zu erschaffen, Gesamtkunstwerke zu kreieren. Erfahrungen zu ermöglichen, die sonst nicht erlebbar wären.

Ich werde selbst zur Heldin und habe das Universum bereits zwanzig Mal gerettet, nur hat davon niemand etwas mitbekommen. In Spielen geschieht nichts ohne Sinn, jeder Tod ist eine hilfreiche Lernerfahrung. Manchmal bin ich Herrin über das Wetter, kann die Tageszeit kontrollieren, währenddessen in verschiedenen fotorealistischen Naturumgebungen spazieren gehen. Vielleicht schieße ich auch auf Roboter, Zombies oder Soldaten, vielleicht auch im Multiplayermodus. Ich mache mit anderen Sport, auch über große geografische Entfernungen hinweg. Oder lasse mich von Google Earth an einen zufälligen Ort transportieren und finde mich auf einer verlassenen Provinzstraße auf den Philippinen wieder.

Ich habe schon spaßeshalber Gottesdienste besucht, Fremde angepöbelt, Kartenspiele
gespielt, Open Mic Nights angehört. Leider habe ich mich auch nicht nur einmal in den
falschen Raum verirrt und unerwartet einer Horde Zehnjähriger bei ihren Streitigkeiten
zuhören müssen.
Die Erinnerungen fühlen sich real an, das Gehirn speichert Erlebnisse ähnlich ab wie solche, die wirklich geschehen. Deshalb wird VR zunehmend auch in der Psychotherapie eingesetzt, beispielsweise, um posttraumatische Belastungsstörungen im Militär zu behandeln.

VR wird auch als Empathiemaschine bezeichnet, ist aber an sich stärker anfällig für
Manipulation als Film. Die vordergründige Objektivität betört, aber selbst die Position der
allsehenden Kamera im allumgebenden Raum ist eine bewusste kuratorische Entscheidung.
Die Kompetenz der kritischen Immersion muss auch erst noch entwickelt werden. Die
Diktaturen des 20. Jahrhunderts waren auch erfolgreich, weil sie die propagandistische Macht des damals neuen Films erkannten. Wie mag dann erst potenzielle VR-Propaganda in Zukunft aussehen?
Bis dahin verpasse ich die Realität.