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Sie sind wieder da

Wie junge Venezianer versuchen, ihre Stadt neu zu beleben – fernab der Touristenströme  
Frau Pantanos grüne Krebse

Elisa Pantano, 38, steht mit schwarzem Kleid und schwarzem Bob auf der fondamenta, dem breiten Gehweg am Kanal, und schaut in Kisten voller Fische und Meeresfrüchte: Sardinen, Oktopus, schie (kleine Garnelen), moeche (grüne Krebse). Mehrmals die Woche bringt ein Fischer den Fang aus der Lagune direkt vor die Osteria, die Elisa Pantano und ihr Mann vor vier Jahren übernommen haben. »Die moeche gibt es nur zwei Mal im Jahr«, sagt Elisa Pantano. Im Frühjahr und im Herbst, wenn sie ihre Panzer verlieren, werden sie im Ganzen frittiert – und vollständig gegessen. Eine venezianische Spezialität. Zu Elisa Pantanos Studentenzeiten, als sie noch im Anice Stellato als Kellnerin jobbte, war das schlichte Lokal bei jungen Leuten vor allem wegen seiner Pasta beliebt. Inzwischen gibt es einen Küchenchef, der mit allem kocht, was die Lagune hergibt – und das in ungewöhnlichen Kombinationen: Jakobsmuscheln mit Kakaocreme, Garnelen mit Orange und Kumquat, Heuschreckenkrebse mit Strozzapreti oder Bigoli in salsa – dicke Spaghetti aus Vollkornweizen mit Sardellensauce. Ihren Wein bezieht Elisa Pantano von Winzern aus der Umgebung, das Gemüse von der Insel San Erasmo oder dem Festland bei Chioggia und Caorle. Elisa und ihr Mann sind Anhänger der Bewegung chilometro zero – die Produkte, die bei ihnen auf den Teller kommen, sollen am besten null Kilometer zurückgelegt haben. »Wenn es im Dezember keine Artischocken auf San Erasmo gibt, kommt eben Kürbis auf den Tisch«, sagt sie. Als Elisa Pantano von den Vorbesitzern das Angebot erhielt, die Osteria Anice Stellato zu übernehmen, lebte sie als Marketing-Direktorin in den USA. Die Entscheidung fiel ihr schwer, doch die Rückkehr war ganz einfach. Elisa Pantano ist froh, wieder Inselbewohnerin zu sein. »Die Stadt braucht Menschen, die sie lieben und am Leben halten«, sagt sie. Auch kulinarisch.

Osteria Anice Stellato,  Fondamenta de la Sensa,  osterianicestellato.com,  Tel. 0039-041/72 07 44


Schuhe aus dem Palazzo

Irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Gondolieri diese Schuhe zu lieben: so weich, dass sie den Lack der Gondeln nicht beschädigten, und so ausgefallen, dass sie zum exzentrischen Selbstbild der Venezianer passten. Le furlane – eine Mischung aus Espadrilles, Slipper und Mokassins – sind typisch venezianische Schuhe. Bei Alessandra Defranzas Schuhmanufaktur Piedàterra kommt das Material dafür aus dem Müll: Die nahezu wasserundurchlässige Sohle besteht aus Fahrradreifen, darüber liegen sieben Lagen Kaffee-Jutesäcke, Putzlumpen und eine Schicht aus
 alten Pasta-Pappkartons. Für die Oberstoffe verwendet Alessandra Defranza, je nach Modell, getragene Kleider oder alte Vorhangstoffe aus Samt und Brokat. Die 47-Jährige holt ein besonders dekadent schimmerndes Paar aus gelbgrünem Brokat aus dem Regal. »Palazzo Gritti. In dem Luxushotel wurden kürzlich die Vorhänge ausgetauscht.« Bevor Alessandra Defranza vor zwölf Jahren von einer Freundin einen Souvenirladen an der Rialtobrücke übernahm, patrouillierte sie jahrelang als Wasserpolizistin mit einem Motorboot über den Canal Grande. Warum sie den sicheren Job aufgab? Alessandra Defranza weiß es bis heute nicht genau. Aber sie weiß, dass es die richtige Entscheidung war, obwohl die ersten Jahre hart waren. Sie musste oft mit ihrem Laden umziehen, ständig Artikel aus dem Sortiment werfen. Ganz am Anfang stand sie sogar mal mit einem Handwagen auf der Straße. Heute verkauft sie in ihrem kleinen, feinen Laden gegenüber der Chiesa di San Giacomo nur noch diese Schuhe, die so gut zu Venedig passen. »Sie verlangsamen den Gang und strahlen eine freundliche Arroganz aus«, sagt Alessandra Defranza. So schlappt man dahin: stilvoll, gemütlich und ein bisschen verrückt.

Piedàterra, San Polo 60,  piedaterre-venice.com,  Tel. 0039-041/528 55 13


Die Enkel des Glasbläsers

Auf dem Balkon sitzt ein Papagei, allerdings kein echter. Der wäre längst auf und davon, über den Canal Grande zum Markusplatz geflogen. Auch im Kaminraum des kleinen Hotels Ca Maria Adele hängen Tropenvögel aus Pappmaché an der Wand. Kissen auf dem Samtsofa zeigen Dschungelszenen. »Das alles soll an Brasilien erinnern«, sagt Alessio Campa, 40. Ursprünglich wollte er sein erstes Hotel in der Nähe von Rio de Janeiro eröffnen, zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder, dem Designer Nicola Campa. Aber weil Nicola Heimweh bekam und die Brüder unzertrennlich sind, kehrten sie bald zurück. Der Neuanfang in Venedig fiel Alessio Campa schwer. Ihm fehlten die weiten Strände, die offenen Menschen – und die Papageien. Alles wirkte eng und beklemmend. Erst als er den am Canal della Salute gelegenen Palazzo in Dorsoduro fand, wurde es besser. Ihm gefiel, dass man direkt auf die Kirche Santa Maria della Salute schaut. Dort zünden die Venezianer jeden 21. November Kerzen an – zum Gedenken an das Ende der Pestwellen von 1630 und 1631, die ein Viertel der Bewohner auslöschten. »Die Salute-Kirche ist Symbol für das Überleben der Stadt«, sagt Alessio Campa. Die Inneneinrichtung des Palazzos haben die Brüder gemeinsam entworfen. Stuck trifft auf Stahl, südamerikanische Papageien auf Tausendundeine Nacht. Schwere Muranoleuchter und orientalische Büsten erinnern an die Handelsverbindungen zwischen Venedig und der arabischen Welt. Der Name Ca Maria Adele, zu Deutsch »das Haus von Maria und Adele«, würdigt die Großmütter der Brüder. Und im Frühstücksraum hängt das Bild eines Kronleuchters, der einst den Großvater berühmt machte: Die Campas entstammen einer alten Glasbläserfamilie; ihr Großvater hat den weltgrößten Kronleuchter für ein belgisches Casino gebaut. Inzwischen, sagt Alessio Campa, habe er mit Venedig seinen Frieden gemacht.

Ca Maria Adele, Sestiere Dorsoduro 111, camariaadele.it, Tel. 0039-041/520 3078


Rudern wie die Alten

In Cannaregio, wo das Braun der Häuser mit dem Grau der Lagune verschwimmt, liegt die Heimat von Emiliano Simon. Hier hat er schon mit acht Jahren Segeln und Rudern gelernt. Doch wie die meisten Venezianer wollte er als Jugendlicher raus aus der Enge der Stadt. Auf Sardinien arbeitete er als Segellehrer, bis ihm das Schiefergrau der Lagune zu sehr fehlte. Heute sitzt der 31-Jährige in der Nähe seines Elternhauses auf einem selbst gebauten Sofa am Kanal. Die Sitzfläche ist ein vom Wasser gegerbter Pfahl, die Lehne ein barockes Bett. Hinter ihm steht das Tor zu der Werkstatt offen, in der er mit seinen Freunden Damiano Tonolotto und Nicola Ebner die rustikalen Boote aus Holz und Teer restauriert, mit denen die Venezianer früher Waren auf den Kanälen transportierten oder in der Lagune fischten. Fünf davon liegen gerade am Kanalufer. »Wir müssen nicht nach den Booten suchen, sie kommen zu uns«, sagt Emiliano Simon. Seitdem Motorkähne den Großteil des Transportes in der Lagune erledigten, hätten viele Inselbewohner das Rudern verlernt. Sie seien froh, wenn ihre alten Boote eine neue Bestimmung fänden. Für Einheimische, die das Rudern wieder lernen wollen, bieten Simon und seine Freunde Kurse an. Auch Schulkinder und Studenten nehmen sie auf ihren Booten mit. Touristen buchen bei veniceonboard gerne Exkursionen in die entlegenen Buchten der Lagune. Mit der Gründung der Associazione sportiva dilettantistica – eines Amateursportvereins, wollen die drei Männer die voga veneta wiederbeleben, eine Technik, bei der ein oder mehrere Ruderer im Stehen das Boot fortbewegen. Mehr als 700 Mitglieder hat der Verein bereits. Auch seinem Vater gibt Emiliano Simon jetzt Ruderstunden. Die Tradition soll keine Lücke lassen.

Venice on Board,  Fondamenta Contarini, veniceonboard.it, Tel. 0039-342 961 0166


Skulpturen aus Dinkelbaguette

»No Spritz« ist nicht nur das WLAN-Passwort, sondern auch Motto der Weinbar Vino Vero. Zwar wurde das Mischgetränk aus Aperol und Weißwein in der Gegend um Venedig erfunden, doch Barchef Pierluca Albanese ist der Meinung, es gehöre nicht in eine klassische Weinbar – wobei »klassisch« nicht das erste Wort ist, das einem zu dem 27-Jährigen mit den Tunnel-Piercings einfällt. Eigentlich wollte Pierluca Albanese Künstler werden. Er zeichnet kalligrafische Werke mit Tusche. Doch auf der Suche nach seiner Bestimmung ist er in diesem kleinen bacaro an der Fondamenta della Misericordia gelandet, den der Wein-Nerd Matteo Bartoli ein paar Jahre zuvor eröffnet hatte: eine EinRaum-Bar mit Weinflaschen in den Regalen und großem Fenster zum Kanal. Traditionell trinkt man in solchen Läden seinen Wein im Stehen, im Winter drinnen, im Sommer draußen. Auch bei Vino Vero. Doch hier kommen nur Naturweine ins Glas. 700 Winzer stehen auf der Karte, die keinen Kunstdünger verwenden und keine Pestizide spritzen. »Als ich meiner Oma einen Schluck zu trinken gab, sagte sie: Oh, der schmeckt ja wie früher. Für mich war das das größte Lob«, sagt der Inhaber, der seinem Barchef Pierluca Albanese neben der Bar auch gleich die Zubereitung der cicchetti anvertraute, Häppchen, die Venezianer gerne dem Alkohol hinterherschieben. Man soll sie, so die Idee, im Vorübergehen essen können. Im Vino Vero braucht man dazu allerdings beide Hände: Der verhinderte Künstler Pierluca Albanese schafft aus Ziegenkäse mit Roten Beten, Minze und Himbeere oder Hummus mit mariniertem Thunfisch und Mandeln beeindruckende Skulpturen auf einem Fundament aus Dinkelbaguette. Monatelang hat er in Venedig danach gesucht – denn eigentlich gibt es in der Gegend nur Weißbrot.

Vino Vero, Fondamenta della  Misericordia 2497, Tel. 0039-041/275 00 44