Die Vermessung der Welle
Zehn Jahre nach dem verheerenden Tsunami in Südostasien ist die Forschung weit gekommen. Nun warnt sie vor einer großen Gefahr im Mittelmeer
Diese Katastrophe hat das Leben von Michaela Spiske nachhaltig verändert. Dabei saß die damalige Geologie-Diplomandin am zweiten Weihnachtsfeiertag 2004 im sicheren Deutschland vor dem Fernseher, während Monsterwellen in Südostasien 230.000 Menschen töteten und 1,7 Millionen obdachlos machten. Die Bilder von der Zerstörungskraft des Sumatra-Tsunamis bestürzten die Welt. Allein die Deutschen spendeten 670 Millionen Euro. Michaela Spiske aber wollte anders helfen. Sie beschloss, Tsunami-Forscherin zu werden.
Das Unheil begann am 26. Dezember 2004 um 7.58 Uhr Ortszeit: Ein Beben der Stärke 9,1 - das drittstärkste, das jemals aufgezeichnet wurde - erschütterte vor Sumatra die Erde. Es verursachte bis zu sechs gewaltige Wellen, die die Menschen in Indonesien, Thailand, Indien oder Sri Lanka völlig unvorbereitet trafen. „Die Wucht war selbst für uns Wissenschaftler schockierend", erinnert sich Geologin Spiske.
Zehn Jahre nach der Katastrophe kennen Forscher Tsunamis fast so gut wie den Wellengang in ihrer Badewanne. Das ist Experten wie Spiske zu verdanken - und einer gewaltigen Kursänderung der Wissenschaft. Bis 2004 waren Tsunamis ein Randthema für Geologen und Meeresforscher. Inzwischen gehören sie neben der Untersuchung des Klimawandels zur Top-Disziplin. Die Bundesregierung stellte Millionen zur Verfügung. Quasi jeder Forschungsantrag wurde auch genehmigt.
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte die Realisierung eines Tsunami-Frühwarnsystems im Indischen Ozean zur Chefsache. Deutsche Experten konzipierten und bauten ein solches System für die Küsten Indonesiens. Als es 2011 seinen Betrieb aufnahm, war es eines der modernsten und schnellsten weltweit. Heute gibt es in mehreren Weltmeeren Warnanlagen nach deutschem Vorbild, die über Satelliten miteinander kommunizieren.
Seebeben, Vulkanausbrücke oder Bergstürze verursachen die Killerwellen
Aus dem Desaster von 2004 erwuchs eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Was Forscher und Ingenieure in den vergangenen zehn Jahren herausfanden und entwickelten, wird künftig Hunderttausenden Menschen das Leben retten. Und doch sind die Experten unzufrieden: Im Mittelmeer - direkt vor unserer Haustür - verhindern Streitigkeiten der Anrainerstaaten ein umfangreiches Warnsystem. Dabei sind verheerende Tsunamis hier genauso wahrscheinlich wie in Südostasien.
Schon ein mittleres Beben mit Stärke 5,6 reicht aus, um eine zehn Meter hohe Welle an die Küste zu schicken. 86 Prozent aller Tsunamis entstehen durch Seebeben, der Rest durch Vulkanausbrüche, Bergstürze an der Küste oder - sehr selten - Meteoriteneinschläge.
„Oft ist nicht die allererste, sondern eine der ersten fünf Wellen die tödlichste"Sie verdrängen innerhalb von Sekunden so viel Wasser, dass dieses mit bis zu 1000 Kilometern pro Stunde - schnell wie ein Passagierflugzeug - an die Küsten rollt. „Auf offener See sind die Wellen meist nur einige Dezimeter hoch, jedoch extrem lang", sagt Alexander Rudloff, Experte im Wissenschaftlichen Vorstandsbereich am Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam. Steigt dann der Meeresboden zur Küste hin an, türmen sich die Wellen bis zu 30, 40 Meter auf. Beim Abrutschen von Hängen oder bei Meteoriteneinschlägen können es sogar mehrere hundert Meter sein.
„Oft ist jedoch nicht die allererste, sondern eine der ersten fünf Wellen die tödlichste", erklärt Rudloff. 2011 in Japan wurde dies vielen Menschen zum Verhängnis: Sie kehrten nach der ersten Welle zurück und starben in der zweiten.