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Vom Forscher zum Firmengründer: Wie Tian Qiu die chirurgische Ausbildung neu aufstellen will

Dr. Tian Qiu © Universität Stuttgart / Sven Cichowicz

Der Biomedizin-Ingenieur und Cyber Valley Forschungsgruppenleiter Dr. Tian Qiu plant ein eigenes Start-up - mit Organen, die mitdenken. Künstliche Harnblasen und Nieren sollen zum Standardwerkzeug für Chirurg:innen werden und ihre Fingerfertigkeiten trainieren.

Organmodelle als sichere Spielwiese

Tag für Tag liegen Menschen auf Operationstischen. Laut dem deutschen Online Portal Statista haben Mediziner:innen mehr als 15 Millionen Operationen im Jahr 2020 an vollstationären Patient:innen in den Krankenhäusern bundesweit durchgeführt. Unmengen an Daten sind dabei entstanden. Für Forschende der künstlichen Intelligenz (KI) ist es schwierig, sie zu bekommen. Das hat gesetzliche, ethische und technische Gründe. Bei Eingriffen an künstlichen Organamodellen hingegen sieht das ganz anders aus: Dort gibt es zum Beispiel keine Vorbehalte, wenn Daten und mögliche Defizite aufgezeichnet werden. Tian Qiu hat solche Organmodelle geschaffen. In seiner Vision besitzen bald alle Kliniken und medizinischen Fakultäten welche. Er ist sicher, dass sowohl biomedizinische Ingenieur:innen als auch operativ tätige Mediziner:innen davon lernen können. Nun möchte er eine Firma gründen.

Tian Qiu ist seit 2019 Cyber Valley Forschungsgruppenleiter für „Biomedizinische Mikrosysteme". Die Gruppe ist am Institut für physikalische Chemie an der Universität Stuttgart angesiedelt. Zuvor studierte er Maschinenbau und Biomedizintechnik an der Tsinghua-Universität in Peking, die als führende technische Universität Chinas gilt. 2012 kam er nach Europa, promovierte in Biotechnologie und Bioingenieurswesen am schweizerischen Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) und forschte am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (MPI-IS). Hier entwickelte er Microroboter, die sich durch den Körper bewegen und minimalinvasive Eingriffe vornehmen sollen. Problematisch nur: Wie üben? Es gab keine realistische Testumgebung für solche Roboter. „Ich bin Ingenieur, ich kenne die Technik, ich kann Dinge bauen. Wieso nicht auch ein Organ?", sagte sich Qiu. Spannend dabei: Bisher fehlt es auch in der chirurgischen Ausbildung an Trainingsmöglichkeiten, die einer Operationssituation am Menschen nahekommen.

In Zusammenarbeit mit der Urologie der Universitätsklinik Freiburg entwickelten die Forschenden deshalb eine Reihe künstlicher Organe: darunter Niere, Harnblase, Prostata - das Modell eines Harntrakts. Chirurg:innen können damit Endoskopien im Blaseninneren üben oder Nierensteine aufspüren. Die Hardware wird durch eine Software flankiert. Während der Prozedur messen Sensoren an den Organmodellen etwa, wie exakt und schnell die Mediziner:innen vorgehen. Die Daten dienen als Feedback ihrer Arbeit - gleichzeitig können Forscher:innen sie in einen KI-Algorithmus einspeisen und diese zum Beispiel darauf trainieren, die Performanz der Operation automatisch zu bewerten. Augmented Reality Surgical Simulator heißt dieser computergestützter Trainingsassistent für Chirurg:innen. Nach jahrelanger Grundlagenforschung ist das Modell für Urolog:innen startklar für die Serienanwendung. „Wenn Nachfrage besteht, können wir das System auf den Markt bringen", sagt Qiu. Die Massenproduktion ist jedoch keine Aufgabe einer akademischen Forschungsgruppe mehr. Dafür braucht es Industrie.

Aus der Forschung in die Wirtschaft?

Gemeinsam mit Prof. Dr. Peer Fischer vom MPI-IS in Stuttgart, Prof. Arkadiusz Miernik vom Universitätsklinikum Freiburg und Dr. Kurt Ruffieux, Serienunternehmer in der Medizinbranche, will Qiu nun ein Start-up gründen. Aber wie wird man vom Wissenschaftler zum Unternehmer? „Es genügt nicht, eine Idee zu haben und in Veröffentlichungen nachzuweisen, dass die Technologie funktioniert", sagt Qiu. Gründen birgt weit mehr Herausforderungen - und wirft Fragen auf, deren Beantwortung nicht Bestandteil eines Ingenieurstudiums sind: Woher die Finanzierung nehmen? Wer will investieren? Wo sich auf dem Markt positionieren? Wer soll kaufen? Was wollen die Kund:innen? Qiu: „Wir glauben an unsere Technologie. Aber ist das auch wirklich die Technologie, die der Markt braucht?"

Gleichgesinnte und Expertise auf unbekanntem Wirtschaftsterrain findet er im Cyber Valley Ökosystem. Dessen Start-up Netzwerk mit seinen regelmäßigen Veranstaltungen hilft, sein Vorhaben voranzutreiben, sagt Qiu. Bei Symposien haben sich beispielsweise bestehende Start-ups vorgestellt und erzählt, was Erfolg verspricht - und was schiefging. Ebenso haben die Start-up Coaches des Instituts für Entrepreneurship und Innovationsforschung an der Universität Stuttgart von Prof. Dr. Alexander Brem maßgeblich Unterstützung geleistet. Die Max-Planck-Innovation GmbH, eine Organisation der Max-Planck-Gesellschaft, die den Transfer von Erfindungen in Unternehmensgründungen fördert, unterstützt Qiu und seine Partner bei der Beantragung von Fördermitteln des Bundesforschungsministeriums sowie bei der Patentierung und Lizenzierung. Das Team hat Patente in der Europäischen Union, den USA und China angemeldet - das sind die größten Märkte für Medizinindustrie. Wissenschaftler:innen an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen setzen sich nicht zwangsläufig mit der Ausgründung ihrer Ideen auseinander, auch wenn ihre Forschung das eigentlich hergeben würde. Im Silicon Valley in den USA etwa oder in Israel sei die Gründungskultur ausgeprägter und weniger konservativ, sagt Qiu. Cyber Valley könnte das seiner Einschätzung nach ändern.

Allerdings: Mit IAV, BMW, ZF, Bosch, Daimler und Porsche sind sechs der derzeit sieben der Cyber Valley Industriepartner Autobauer oder Zulieferer. „Es könnte uns wirklich helfen, wenn weitere Partner aus der Medizinindustrie dazukämen", sagt Qiu. Die Industrie sei in der Region stark vertreten, betont Qiu. Zum Beispiel gebe es rund 400 Unternehmen für medizinische Instrumente in Tuttlingen und auch eine starke biomedizinische Industrie in der Region Tübingen.

Die Resonanz auf die cyber-physischen Organzwillinge ist vielversprechend. Qiu und seine Partner sind derzeit mit zehn teils internationalen Medizintechnikkonzernen in Kontakt, die Interesse angemeldet haben. Den Trainingsassistenten für urologische Eingriffe haben Tian und sein Team ihren EndoUroTrainer beispielsweise jüngst nach Kanada geschickt. Urolog:innen testeten dort bei einem Workshop eine neue Operationsmethode für Vergrößerungen der Prostata - rund ein Viertel der Männer über 50 sind davon betroffen, mit dem Alter steigt das Risiko auf bis zu 90 Prozent. Der Bedarf scheint also gegeben.

Das Modell des Harntrakts ist nur der Anfang

Das Prinzip des intelligenten künstlichen Harnstrakts lässt sich auf andere Fachbereiche wie beispielsweise die Neurochirurgie übertragen. Qiu könnte sich beispielsweise auch die Konzeption eines künstlichen Gehirns vorstellen. Darin liegt aber auch die Crux. „Es gibt so viele Bereiche in der Medizin und Organe, dass uns die Arbeit nicht ausgeht", sagt der Gründer. „Aber als junges Start-up haben wir nicht die Ressourcen, alle Organe anzugehen. Wir müssen sorgfältig das richtige auswählen." Weiterer Knackpunkt: Es gelte einerseits, die Anfangsphase zu bestehen und gegenwärtige Leerstellen am Markt zu füllen - und gleichzeitig Neues zu erfinden, um die medizinische Ausbildung langfristig auf ein neues Level zu führen. Für den Anfang planen die Gründenden mit drei bis fünf Beschäftigten. An erster Stelle suchen sie eine:n Projektmanager:in mit technischem Hintergrund und Erfahrung in der Branche.

Die Daten aus den künstlichen Organen machen chirurgische Arbeit messbar und bewertbar. Den Ausbilder:innen können sie Anhaltspunkte liefern, wer bereit ist für reale Operationssäle und Patienten. Nachwuchschirurg:innen können ablesen, was sie an ihrer Performanz verbessern müssen. In Qius Idealvorstellung hat sich der Augmented Reality Surgical Simulator in einigen Jahren als standardisiertes Trainingssystem durchgesetzt. KI hält er in der Medizin für unverzichtbar - und ihr Potenzial längst nicht ausgeschöpft. Dass Mediziner:innen womöglich ihren Arbeitsplatz verlieren könnten, diese Sorge teilt er nicht: Hochqualifizierte Ärzt:innen seien schwerlich komplett durch Roboter zu ersetzen. Viele seien aber skeptisch, ob KI schon weit genug entwickelt sei, um ebenso gut zu arbeiten wie ein menschlicher Assistent. Bei Patient:innen wiederum könnte die Vorstellung von eigenständig operierenden Robotern Ängste schüren, sagt Qiu. Ähnlich wie bei selbstfahrenden Autos seien noch viele ethische wie rechtliche Fragen zu klären. Ihm ist wichtig: Seine Entwicklung soll Mediziner:innen unterstützen statt ablösen. „Die KI kann ihre Arbeit machen und dann von einem menschlichen Chirurgen geprüft werden. Wo ist da das Problem?"

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