Über einige Rentner*innen sagt man, sie befänden sich im Unruhestand. Was hält dich unruhig?
Ich will noch ganz viel wissen und lernen, besuche Veranstaltungen und Fortbildungen. Am wichtigsten ist mein Auto. Im Auto tut mir nichts weh, da spüre ich meine Gelenkschmerzen nicht. Darum fahre ich gerne lange Strecken, zum Beispiel nachts durch die Holsteinische Schweiz zur Rapsblüte. Ich besuche auch Leute, bleibe aber nirgends lange. Sitzfleisch hab ich nicht. Es macht mich glücklich, in Bewegung zu sein.
Früher hast du aber oft auf heißen Öfen gesessen!Ich war lange Motorradfahrerin. Ein Motorrad hätte ich gern wieder.
Daran hindert dich aber nicht deine HIV-Infektion?HIV hindert mich an überhaupt nichts, aber ich werde halt auch nicht jünger. Mein Rücken und meine Knie machen nicht mehr mit. Ich müsste die Maschine ja halten können. Früher habe ich auch Kampfsport gemacht, ich war Judotrainerin und leidenschaftliche Skifahrerin. Das geht leider alles nicht mehr.
Und HIV schränkt dich überhaupt nicht ein?Gar nicht mehr. Mich ärgern andere Dinge: dass meine Haare grau werden und ausfallen, dass meine Gelenke nicht mehr mitspielen, dass ich es nicht schaffe, abzunehmen.
Was unternimmst du, damit das Älterwerden weniger nervt?Ich mache Nordic Walking. Hat noch nix gebracht. Ich habe meine Ernährung umgestellt, das halte ich aber nicht durch. Ich färbe auch meine Haare, mit dem Grau kann ich mich noch nicht anfreunden. Ansonsten bin ich rundherum zufrieden. Ich freue mich über kleine Sachen.
Zum Beispiel?Kürzlich habe ich mir zwei Nymphensittiche aus dem Tierheim geholt, die machen jetzt hier Krach.
Was dein Äußeres betrifft, bist du auch nicht altbacken.Danke. Ein Punkt, der mir sehr wichtig ist, sind meine Fingernägel. Egal, wo ich bin, darauf werde ich immer angesprochen. Aber meine Hände sehen natürlich alt und verkrümmt aus, die sind 74 Jahre alt. Von einigen Menschen kommt dann schon mal: „In dem Alter müssen lackierte Nägel aber nicht mehr sein!" Dann sage ich: „Jetzt erst recht!" Da bin ich ein bisschen bockig.
Was ist mit 74 sehr viel besser als im Teenageralter?(lacht) Ich habe vier Urenkel. Das Babysitten gefällt mir. Wenn sie wieder abgeholt werden, gefällt mir das auch.
Du hast deine HIV-Diagnose vor 25 Jahren bekommen, mit 50. Wie kam das?Infiziert habe ich mich bei meinem späteren Ehemann. Er wusste nichts von seiner Infektion. Ich war Blutspenderin und bekam eines Tages eine Nachricht, dass etwas nicht stimme. Ein junger Arzt hat es dann nicht fertiggebracht zu sagen, was los war. Ich wurde sauer und sagte: „Spucken Sie's aus!" Er schrie mich an: „Sie sind HIV-positiv!" Das war ein Schock. Fast zehn Jahre hatte ich mit Selbststigmatisierung zu kämpfen.
Wie bist du in deiner Ehe damit umgegangen?Eine Woche, nachdem ich es erfahren hatte, haben wir geheiratet. Wir hatten schon den Termin beim Standesamt. Mein Mann dachte zuerst, ich sei fremdgegangen. Als er sein positives Testergebnis bekam, fiel er in Ohnmacht. Danach wollte er es nicht wahrhaben. Er lehnte es ab, über HIV zu reden. Nach vier Jahren habe ich die Scheidung eingereicht.
Was hat es in den späten Neunzigern bedeutet, HIV-positiv zu sein?Es war erschreckend für mich, weil ich so wenig darüber wusste. Ich habe mich unheimlich geschämt, ohne zu wissen wofür. Meiner Familie und meinem Sohn konnte ich es erst nicht sagen. Es kam mir so komisch vor: „Mutter hat HIV." Man dachte, das trifft nur Jüngere, die mehr Sex haben. Fünf Jahre habe ich mich gequält, bis ich es nicht mehr aushielt. Inzwischen kann ich über alles offen reden.
Wie haben die Leute auf dich als heterosexuelle Frau mit HIV reagiert?Als ich noch arbeitete, gab es üblen Tratsch unter den Kolleg*innen. Ich bekam alle Klischees zu spüren, hörte immer wieder dumme Bemerkungen und Mutmaßungen über mein Sexleben. Dabei bin ich so eine Brave, katholisch erzogen, ein bisschen moralisch. Krankenschwestern fragten mich: „Wo haben gerade Sie sich das geholt?" Mir traut man so etwas nicht zu.
Was hörst du von anderen Frauen mit HIV?Für Frauen ist es oft schwieriger. Ich kenne zwei Frauen mit Kindern, die würden sich nie outen. Denn es kommt vor, dass dann andere Eltern auf Distanz gehen, zum Beispiel ihre Kinder aus dem Kindergarten nehmen.
Hast du selbst noch in anderen Bereichen Diskriminierung erlebt?Ganz schlimm war es anfangs im medizinischen Bereich. Mir sollte damals wegen Zysten die Gebärmutter entfernt werden. Man hat mich vorbereitet, mir mein OP-Hemd angezogen, eine Tablette gegeben. Dann sagte die Krankenschwester, man müsse noch einmal mit mir sprechen. Ich kam in einen Raum mit fünf Ärzten. Die standen mit verschränkten Armen vor mir und sagten: „Wir versuchen das doch noch einmal konservativ, es ist doch eine sehr blutige Angelegenheit. Sie können wieder nach Hause gehen."
Und heute?So etwas kommt immer noch vor. Aber ich lasse mir nichts mehr an den Kopf werfen. In komischen Situationen sage ich: „Wenn Sie etwas nicht verstanden haben, erkläre ich es Ihnen gerne." HIV ist bei mir seit zehn Jahren nicht mehr übertragbar.
Wegen der HIV-Therapie.Genau. Das muss ich manchmal auch anderen HIV-Positiven erklären. Ich spreche zum Beispiel auch mit Inhaftierten über HIV. Ein junger Mann in einer Justizvollzugsanstalt meinte neulich mal, sein Leben sei vorbei, er brauche keine Frau mehr zu suchen, keine Familienplanung zu machen. Aber so ist es eben nicht. Unter Therapie ist HIV nicht mehr übertragbar. Man kann Kinder kriegen und sein Leben leben.
Hildegard, wir danken dir sehr für dieses aufschlussreiche Gespräch. Interview: Katharina Löffler