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Proteste in Kolumbien: Ungleichheit tötet

Cali, 28. April 2021: Während der Proteste gegen die Steuerreform steht ein Mann Polizisten der Anti-Aufstandseinheit Esmad gegenüber. Sie schützen den Eingang des Sitzes der nationalen Steuerbehörde DIAN. Foto: Christian EscobarMora / MIRA-V


„Lieber an Covid sterben als an Hunger": In Kolumbien gehen seit Tagen Tausende auf die Straßen. Sie protestieren gegen die jüngste Steuerform - und bezahlen das teils mit ihrem Leben.

Mehrere Tote, hunderte Verletzte: In Kolumbien protestieren seit Tagen Tausende im ganzen Land - Auslöser ist die neueste Steuerreform und das mangelhafte Covid-Management der Regierung. Aber die Gründe für den Unmut der Bevölkerung liegen tiefer.

Videos zeigen Polizisten, die nach kurzer Diskussion Menschen mitzerren, Polizisten, die aus geringer Entfernung auf Menschen schießen und auf ihre Köpfe zielen. In mehreren Städten werden Menschen von der Polizei in Sportstätten geschleppt und dort festgehalten. Die Bilder wecken Erinnerungen an die Folterlager lateinamerikanischer Diktaturen.

Seit mehreren Tagen demonstrieren täglich Tausende in Kolumbien auf den Straßen. Hinzu kommen die Menschen, die aus Angst vor Ansteckung oder Gewalt von zu Hause aus protestieren: mit Schildern, die sie in ihre Fenster hängen, und nächtlichem Topfschlagen, den cacerolazos, das sich wie ein Lauffeuer in den Vierteln verbreitet.

Auslöser für die landesweiten Demonstrationen war die neueste Steuerreform, die dritte in der Amtszeit des rechtskonservativen Präsidenten Iván Duque. Auf die Straße treiben die Menschen vor allem zwei Punkte: die geplante Mehrwertsteuer-Erhöhung bei Lebensmitteln und Treibstoff und die massive Senkung des Einkommens, ab dem man künftig Steuern zahlen soll. Am stärksten sind die Proteste in Cali im Südwesten des Landes.

„Unser Hunger, unser Schmerz und unsere Angst, dass die Regierung dieses Land zerstört, sind größer als unsere Angst vor dem Coronavirus." (Ana María Ramírez, Demonstrantin aus Cali)

Ana María Ramírez (25) arbeitet in einer Werbeagentur und ist Afrokolumbianerin, wie ein Großteil der Bevölkerung in Cali, und hat an mehreren Demonstrationen teilgenommen. „Kolumbien hat gewaltige Probleme bei der Bildung, bei der Gesundheit, auf dem Arbeitsmarkt. Jetzt ist der Moment, von der Regierung Hilfe zu verlangen statt Gesetze, die uns schaden, gerade uns Jungen", sagt sie. „Viele Freunde von mir konnten nicht weiter studieren, weil sie oder ihre Eltern ihre Arbeit verloren haben. Die Regierung garantiert uns derzeit kein einziges unserer Grundrechte."

Viele Caleños und Caleñas, wie die Bewohnerïnnen von Cali genannt werden, sind Vertriebene oder Nachkommen von Vertriebenen, die vor dem bewaffneten Konflikt in der Pazifikregion geflohen sind. „Die Regierung zerstört den Friedensprozess, es gab gigantische Rückschritte, auch wirtschaftlich", sagt Ramírez. Dann sagt sie einen Satz, der derzeit auf vielen Plakaten in Kolumbien so ähnlich zu lesen ist: „Unser Hunger, unser Schmerz und unsere Angst, dass die Regierung dieses Land zerstört, sind größer als unsere Angst vor dem Coronavirus."

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Krasse Armut, krasser Reichtum

María Fernanda Valdés, Steuer-Expertin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bogotá, analysiert die Situation so: „Der Reform-Vorschlag ist sehr grausam gegenüber der Mittelschicht und fordert nicht genug von den Reichen." Es sei vor allem die Mittelschicht, die jetzt auf der Straße protestiere.

Aber die Bezeichnung „Mittelschicht" trügt: In Kolumbien gehören zu dieser „clase media" rechnerisch die Menschen, die nicht unmittelbar in Gefahr sind, in die Armut abzusacken - unter ihnen ist schon die „clase vulnerable", die vulnerable oder armutsgefährdete Schicht". „Zur Mittelschicht gehören 15 Millionen Menschen, von denen die meisten nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn verdienen", sagt Valdés. Die kolumbianische „Mittelschicht" hat ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen zwischen umgerechnet 158,80 und 304,59 Euro.

Mit den zusätzlichen Einnahmen aus der Reform sollen vor allem Haushaltslöcher gestopft werden, aber auch unter anderem eine dauerhafte Unterstützung von maximal 80.000 Pesos (umgerechnet 18 Euro) im Monat für die Ärmsten eingerichtet werden. „Das klingt nach wenig, aber vier Millionen Kolumbianerïnnen leben von 76.000 Pesos im Monat", sagt Steuer-Expertin María Fernanda Valdés. Präsident Iván Duque nennt die Reform deshalb nur „Gesetz zur nachhaltigen Solidarität". Duque will Schulden abbauen, unter anderem, damit die internationalen Rating-Agenturen nicht Kolumbiens Kreditwürdigkeit herabstufen.

Doch der Weg dazu ist laut Valdés falsch: Sie empfiehlt, die Reichen deutlich höher zu besteuern. Die Steuerform hatte das zumindest ein Bisschen vorgesehen: Das reichste eine Prozent der Bevölkerung sollte mit 41 Prozent besteuert werden. „Das wäre der höchste Spitzensteuersatz in Lateinamerika. Aber darüber hat die Regierung niemals öffentlich gesprochen, nicht einmal der Finanzminister, als er die Reform vorstellte", sagt Valdés. Ihre Vermutung ist, dass die Regierungspartei ihre wohlhabende Anhängerschaft nicht verschrecken wollte.

Derzeit sieht es so aus: „Das reichste ein Prozent erhält etwa 21 Prozent der Einnahmen - und dieses Prozent zahlt auf etwa 88 Prozent der Einnahmen keine Steuern", ergänzt Diego Carlo Barón vom Zentrum für Steuerpolitik an der Universidad Nacional in einer Sondersendung zur Steuerreform von Canal Capital Bogotá.

Ein Land in der Krise

Kolumbien steckt derzeit in der schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. In der Pandemie sind Armut und Arbeitslosigkeit weiter gestiegen. Mehr als 75.000 Menschen sind mittlerweile an Covid-19 gestorben. Die staatlichen Hilfen für die Ärmsten ( ingreso solidario) von umgerechnet 35 Euro monatlich reichen kaum zum Überleben und sind zudem nur bei einen Bruchteil der Bedürftigen angekommen.

Kinder werden verstärkt von bewaffneten Gruppen angeworben seit die Schulen geschlossen sind und damit auch die Schulspeisung ausfällt. Geld für die Umsetzung des Friedensabkommens, das auf dem Land zum Beispiel die ersehnte Infrastruktur bringen sollte, wird gekürzt. Alle Vorstöße für eine Grundrente lehnte die Regierung ab. Dafür hatte Kolumbien 2020 die zweithöchsten Militär-Ausgaben in Lateinamerika nach Brasilien.

Cali tobt

Cali, die drittgrößte Stadt Kolumbiens, erlebt wohl die größten Proteste in seiner jüngsten Geschichte. Tausende demonstrieren seit Tagen. Es sind friedliche Massen, die mit ihren Gesängen, den vielen kolumbianischen Flaggen und den Trikots aussehen, als würde heute die Nationalmannschaft spielen. Patriotismus pur. Doch die Texte der Lieder sprechen eine andere Sprache. Ein beliebter Refrain: „Duque, Hurensohn."

Manche Gruppen, längst nicht nur Minderheiten, nutzen die Proteste für Plünderungen der Supermärkte, zünden Banken und Busstationen an. Unter ihnen sollen auch Migrantïnnen aus Venezuela sein.

Wie im Krieg

Der Fotograf Christian EscobarMora hat 13 Jahre lang den bewaffneten Konflikt im Cauca dokumentiert. Das ist die Region nahe Cali, in der bis heute die meisten Indigenen ermordet werden. Seit Mittwoch dokumentiert er jeden Tag die Proteste. Er unterbricht das Telefonat immer wieder, weil Schüsse zu hören sind oder die Hubschrauber von Stadt und Polizei tief über den Häusern kreisen. „Das hier klingt wie die Gefechte im Cauca", sagt er. An die totale Ausgangssperre, die offiziell seit Tagen herrscht, „hält sich hier kein Mensch", sagt EscobarMora.

Nicht nur die Polizei schießt auf Zivilistïnnen, sagt ein Augenzeuge. Es stehen demnach auch Menschen in Zivil neben Polizisten und schießen. Und unter den Demonstrierenden sind manche bewaffnet. Als in einem reichen Viertel eine Gruppe Menschen einen teuren Supermarkt plündern wollte, haben demnach Anwohnerïnnen aus den Hochhäusern geschossen und die Gruppe vertrieben.

Die Polizei, vor allem die berüchtigte Anti-Aufstands-Einheit Esmad, geht mit Brutalität gegen Demonstrierende vor, aber auch gegen Passantïnnen und Anwohnerïnnen. Das belegt der detaillierte Report, den die anerkannte Menschenrechtsorganisation Red de Derechos Humanos des Suroccidente Colombiano „Francisco Isaías Cifuentes" am Freitagabend vorlegte.

Sexuelle Belästigung, Folter, Morde

14 Tote wurden ihr bis dahin angezeigt, sieben von ihnen wurden von der Polizei ermordet, darunter mehrere Minderjährige. Eine Frau starb zu Hause an einem Herzinfarkt, als die Polizei in ihrem Viertel Tränengas einsetzte und das Gas in ihre Wohnung eindrang. Die restlichen Anzeigen wurden zu dem Zeitpunkt noch überprüft.

Die Nichtregierungsorganisation berichtet, wie einige andere von Menschenrechtsverletzungen wie Folter und sexueller Belästigung von Frauen. Von Festgenommenen wurden die Telefone einkassiert, Inhalte gelöscht. Vertreterïnnen von Menschenrechtsorganisationen durften sie weder bei der Festnahme begleiten noch in der Sporthallen besuchen, wo sie festgehalten wurden.

Der Auto-Konvoi der Mitarbeitenden des Red de Derechos Humanos des Suroccidente Colombiano wurde nach der Pressekonferenz am Freitag von Unbekannten aufgehalten und beschossen. Darnelly Rodríguez, Koordinatorin für die Region Valle de Cauca, saß in einem der Wagen. Seit Freitag werden alle Anrufe von und mit ihrem Handy unterbrochen. Ein Interview war nur schriftlich möglich. Sie hat Drohvideonachrichten per WhatsApp erhalten. „Ich bleibe jetzt erst einmal zu Hause, denn ich habe Angst."

Hohe Dunkelziffer bei Toten

Wie viele Menschen bei den Protesten in Kolumbien von der Polizei ermordet wurden, ist unklar. Verlässliche Zahlen zu bekommen, ist schwierig. Die Ombudsstelle des Volkes (Defensoría del Pueblo) bezieht sich nur auf Fälle, die bei der Staatsanwaltschaft angezeigt wurden. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Fakt ist, dass alle Zahlen von offizieller Seite deutlich unter denen der Menschenrechtsorganisationen liegen.

Die Nichtregierungsorganisation Temblores hat angesichts der massiv angestiegenen und unkontrollierten Polizeigewalt vor allem beim Einsatz von Schusswaffen eine „traurige Entscheidung" getroffen, schreibt sie in ihrer aktuellsten Pressemitteilung vom Sonntag: Sie rät allen Demonstrierenden, die noch auf den Straßen ihr Recht auf Protest wahrnehmen, sich schleunigst nach Hause in Sicherheit zu bringen. 24 Menschen wurden nach ihrer Rechnung bislang von der Polizei ermordet.

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