Katharina Wiegmann

Journalistin & Redakteurin, Berlin

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Artikel

Wie der Kampf gegen die "Gender-Ideologie" Rechte in ganz Europa vereint

Jeden Tag versucht ein Mann in Deutschland, seine aktuelle oder eine ehemalige Partnerin umzubringen. Mindestens jeden dritten Tag geschieht ein solcher Mord.


Es sind Zahlen, über die schon viel geschrieben wurde, aber sie müssen immer wieder zitiert werden, bis auch der oder die Letzte begreift, dass es nicht um Einzelfälle geht, sondern dass dahinter ein größeres, ein strukturelles Problem steckt. EU-weit hat jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexualisierte Gewalt erfahren. Das Problem zieht sich durch alle Milieus und sozialen Schichten der Gesellschaft.


Die Istanbul-Konvention zur »Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt« soll alldem etwas entgegensetzen. Im Jahr 2011 wurde das Abkommen vom Europarat ausgearbeitet, 2014 trat es in Kraft.


Am schnellsten hatte die Türkei das Abkommen zum Schutz von Frauen unterzeichnet: Im März 2012 passierte es das türkische Parlament. Doch jetzt wollen ausgerechnet türkische Politiker:innen konservativer Parteien das Rad zurückdrehen und aus der Konvention aussteigen. Und das, obwohl während der Coronapandemie auch in der Türkei häusliche Gewalt zugenommen hat und gerade erst ein Frauenmord – wieder einmal – landesweit für Entsetzen und Proteste sorgte.


Neben türkischen Politiker:innen dachte auch der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro Ende Juli öffentlich über einen möglichen Austritt seines Landes aus der Konvention nach. Diskussionen über die Istanbul-Konvention gibt es seit Jahren aber auch in Tschechien, Ungarn oder der Slowakei. In Deutschland wettern AfD-Abgeordnete öffentlich gegen das Abkommen.


Was stört Rechte in ganz Europa an der Konvention, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen soll?


Gewalt zementiert Machtverhältnisse

Zunächst einmal die Fakten: Mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention erkennen die Mitgliedstaaten an, dass Gewalt gegen Frauen aus ungleichen Machtverhältnissen zwischen Frauen und Männern resultiert, und verpflichten sich, gegen jegliche Form von Gewalt vorzugehen, die vor allem Frauen betrifft – Vergewaltigung oder andere Formen sexualisierter Gewalt, Genitalverstümmelungen, erzwungene Abtreibungen, Sterilisationen und Zwangsehen oder auch Stalking und andere Formen psychischer Gewalt. Das Übereinkommen soll einen Beitrag gegen Diskriminierung von Frauen leisten und die Gleichstellung der Geschlechter fördern.


Es baut dabei auf 4 Grundpfeiler:


  • Prävention: Die Staaten verpflichten sich, durch Kampagnen oder (Bildungs-)Programme zur Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft beizutragen und für die Problematik zu sensibilisieren.
  • Schutz: Von Gewalt betroffene oder gefährdete Personen sollen Unterstützung und Schutz erfahren, zum Beispiel über Hilfetelefone oder andere Anlaufstellen und Frauenhäuser. Die Staaten sollen diesen Diensten »angemessene Mittel« bereitstellen.
  • Verfolgung von Straftätern: Die Staaten verpflichten sich, einen wirksamen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der es Betroffenen ermöglicht, sich juristisch zur Wehr zu setzen und Straftäter effizient zu verfolgen – wenn es sein muss mit neuen Gesetzen.
  • Umfassende und koordinierte politische Maßnahmen: Die Umsetzung der Maßnahmen wird von eigens dafür geschaffenen Stellen koordiniert. Parallel dazu sollen die Erhebung von statistischen Daten und Studien Erkenntnisse dazu liefern, wie sich die Situation in dem jeweiligen Land entwickelt.

Für die Gegner:innen der Konvention steckt der Teufel bei alldem nicht im Detail, sondern in einer zentralen Grundannahme: Geschlechterverhältnisse sind sozial konstruiert. Deutlich wird das zum Beispiel in Artikel 12 des Abkommens – darin geht es unter anderem darum, Vorurteile, Bräuche und Traditionen zu beseitigen, die »auf der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen für Frauen und Männer beruhen«.

Insbesondere das Wort Rollenzuweisungen reizt traditionsorientierte Rechtskonservative und Religiöse, die davon ausgehen, dass Frauen und Männer nun einmal »natürliche« und festgeschriebene Rollen in der Gesellschaft zu erfüllen haben.


Alles andere ist für sie »Gender Gaga«, Ausdruck einer von der »LGBT+-Lobby« propagierten Ideologie, die gegen die Kernfamilie Stimmung macht und Mann und Frau als Geschlecht am liebsten abschaffen und dafür 56 neue einführen würde.

Das Feindbild der Rechten ist so sehr überzeichnet, dass es bisweilen schwerfällt, derartige Äußerungen ernst zu nehmen. Doch das sollte man, denn mit ihnen wird in Europa Politik gemacht, die Wahlen mitentscheidet – wie jüngst in Polen.


Der Kampf der Rechten gegen die »Gender-Ideologie«

Hier hatte der amtierende Präsident Andrzej Duda im Wahlkampf gegen LGBTQI+-Personen gehetzt und sich damit eindeutig in einer Art Kulturkampf positioniert, der das Land seit Jahren spaltet. Auf der einen Seite steht das streng katholische, konservative Polen, das traditionelle Werte durch eine feministische Ideologie bedroht sieht, auf der anderen Seite eine liberale, weltoffene Opposition und Aktivist:innen, die sich für die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten einsetzen.


Den Kampf gegen eine »Gender-Ideologie«, wie sie angeblich auch die Istanbul-Konvention vertritt, bezeichnet die polnische Soziologin Weronika Grzebalska in einem Beitrag für die Plattform Visegrad Insight als »symbolischen Klebstoff«, der konservative bis rechte Akteure im Kampf gegen die liberale Demokratie und progressive Entwicklungen vereint. Was in diesem Kampf mitschwingt: Die Zurückweisung einer Einmischung von außen, beispielsweise durch die EU, in die traditionelle Lebensweise.


Unfreiwillige PR für die Istanbul-Konvention?

So besorgniserregend die jüngsten Angriffe auf die Istanbul-Konvention auch sind, vielleicht hat das Ganze wenigstens ein Gutes: Viele dürften so überhaupt zum ersten Mal von ihr gehört haben. Die Proteste gegen den Ausstieg in Warschau, Istanbul und anderswo könnten so genau zu der Bewusstseinsbildung beitragen, zu der sich die Mitgliedstaaten der Konvention mit der Unterzeichnung verpflichtet haben – wenn sie denn gehört und ernstgenommen werden.

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