Katharina Wasmeier

Freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Nürnberg

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Rezension

Was du nie siehst - ein Roman für den offenen Blick

„Dass man mit den Wörtern kämpft, also von Integration zu Inklusion geht, das deutet ja schon mit einem dicken Finger auf das Problem, dass es trotz aller Versuche immer nur noch um etwas Ausgeschlossenes geht.“ Johann Mühlbauer ist blind. Aber erst seit seinem zweiten Lebensjahr, deswegen ist er im Schulsport besser als der von Geburt an blinde Freund. Und das findet der nicht gut. Und Johanns Eltern, die sind nicht begeistert, wenn der Sohn auf Reisen gehen will, die Welt erobern, und überhaupt: Wenn man nicht sehen kann, was bringt dann so ein Urlaub? Wie liest man Bücher, wie kocht man, wie zur Hölle kannst du surfen? Ganz einfach, sagt Johann Mühlbauer, den viele hier in Nürnberg schon längst als „Hansi“ kennen, als Dehydrators-Frontmann und Walderlebnisschulen-Leiter, als Physiotherapeut und Micky-Herrchen: „Es ist möglich. Man muss eben dranbleiben; vielleicht ein bisschen länger als die Freunde mit Augen. Und Dranbleiben muss man auch lernen. Ich schätze mal, egal ob mit oder ohne Augen.“ Drangeblieben ist auch Tibor Baumann, nach Berlin emigrierter Nürnberger Regisseur und Autor, der Hansi Mühlbauer über Monate begleitet, erfahren, kennen- und ja, wohl auch: auswendig gelernt hat. Der Arm in Arm durch das Leben dessen Mannes tapste, über den er sich selbst fragt: Ist er ein Blinder, der Hansi heißt? Oder Hansi, der unter anderem das Merkmal hat, blind zu sein? Gemeinsam haben sie 37 Jahre durchforstet, haben Erinnerungen gewälzt und Sätze gebildet, die Tibor Baumann im Roman „Was du nie siehst“ zu einem Roman verarbeitet hat, eine Geschichte erzählt, die ziemlich wahr ist. Hansi Mühlbauer verliert sein Handy. Das ist immer blöd, besonders aber jetzt, da sich ganz frisch die Nummer einer tollen Frau darin befindet. Zwischen Stress und Glück und Schmetterlingen sucht Hansi das Telefon – und findet dabei zu sich selbst. Im Gerüst der Romanze bewegt sich das Gespann Mühlbauer-Baumann miteinander semi-biographisch durch die Jahre, in der der Protagonist von seinem Leben berichtet, vor allem aber auch von den Kämpfen und Dämonen, der Wut und Verzweiflung des Makels, der hinter Glasaugen versteckt wird, mit dem Stock die Möglichkeiten abklopft, an Grenzen stößt. All das, „was du nie siehst“ als Sehender lässt Hansi Mühlbauer erblicken, der erklärt, wie das geht mit dem Leben und mit den Witzen, mit der Freundschaft und dem Alleinsein, mit dem Träumen und Aufgeben und Berühren und warum Schritte zählen Quark ist und kulturelle Bildung schwierig und wo verdammtnochmal ist diese Frau, die vielleicht, vielleicht endlich die große Liebe ist? Zwischen schnörkellos ehrlich und fast philosophisch vor allem dann, wenn der Autor spricht, seinen eigenen Weg geht in dieser unvergleichlich intensiven Begegnung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, in der lernt man, ja, auch: Hansi Mühlbauer kennen, der ein Akteur ist in diesem oft so seltsam holprigen Zusammenspiel dieser einen mit diesen anderen. Vor allem aber eine entwaffnende Gedankenwelt, nach der – jede Wette! – die eigene Stadt plötzlich ganz anders aussieht.


„Was du nie siehst“, Lesung mit Tibor Baumann & Hansi Mühlbauer am 18.12., 20-22 Uhr im Loft, Austraße 70, Eintritt 6,05/9,35 Euro; oder Buchvorstellung am 17.12., 19-21 Uhr im Café Kraft, Gebertstraße 9, mit Gespräch und Blind-Bouldern, Eintritt frei

TIBOR BAUMANN: Was du nie siehst, Carpathia Verlag, Berlin, 384 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-943709-75-9, erschienen am 01.12.2019