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Eine Frage der Wahrnehmung im Dialogmuseum

Im Dialogmuseum kehrt sich die Welt für Yasmina El-Mimouni und die Teilnehmer ihrer Führungen um.

Was blinde und sehbehinderte Menschen leisten, zeigen sie im Frankfurter Dialogmuseum. Im Alltag haben sie allerdings mit widrigen Umständen zu kämpfen - mit quer im Weg stehenden E-Rollern oder Vorurteilen beispielsweise.

Im grellen Kunstlicht der weitläufigen B-Ebene unter der Hauptwache liegt das Dialogmuseum. Fast versteckt zwischen Friseursalons und Fahrkartenautomaten, macht das Eingangsportal mit seinen hellen Fliesen einen sauberen, beinahe klinischen Eindruck. Im Dialogmuseum werden Sehende für eine Stunde blind. In den abgedunkelten Räumen müssen sich die Besucher auf ihre anderen Sinne verlassen. Yasmina El-Mimouni arbeitet seit acht Monaten hier und führt die Gäste durch die Dunkelheit. Die sehbehinderte Neunundzwanzigjährige ist einer von 19 Mitarbeitern im Museum.

Die Bürokauffrau hat eine Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, was bedeutet, dass sie langsam ihre Sehkraft verliert. Es ist eine angeborene Erkrankung, gegen die es bislang kein Medikament gibt. Ihre Sehkraft hat sich bereits von 40 auf vier Prozent reduziert. Mit den Führungen dreht sich die Welt für sie um. Auf einmal hilft sie Sehenden, den Weg zu finden. Im Alltag dagegen werden blinde oder sehbehinderte Menschen häufig unterschätzt.

Blinde werden nicht statistisch erfasst

Viele Sehende verhielten sich unbeholfen, erzählt El-Mimouni. Einige dächten, blinde Personen wüssten sich nicht zu helfen, und leiteten sie ungefragt zur Bushaltestelle oder in den falschen Zug. „Das ist ein No-Go“, sagt sie. Auch deshalb sei es sinnvoll, das Museum zu besuchen. Sie selbst sei von solchem Verhalten selten betroffen, da man ihr die Sehbehinderung kaum anmerke. Die Menschen litten weniger an ihrer Behinderung als vielmehr daran, wie wenig die Gesellschaft auf Vielfalt ausgerichtet sei, an vermeidbaren Barrieren und an Alltagsdiskriminierung, äußert die Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte.

In Deutschland werden Blinde und Sehbehinderte nicht statistisch erfasst, sondern nur diejenigen mit einem Schwerbehindertenausweis. Laut Statistischem Bundesamt gab es demnach 2019 rund 76.700 blinde, 51.100 hochgradig sehbehinderte und 452.900 sehbehinderte Menschen. Als Sozialunternehmen versucht das Museum die Integration zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen, um so die Potentiale von sehbehinderten und blinden Personen zu nutzen und die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken.

„Ziel der Ausstellung ist es, Bewusstsein und Akzeptanz für behinderte und sozial benachteiligte Menschen in der Öffentlichkeit zu schärfen“, sagt Museums-Geschäftsführerin Klara Kletzka. El-Mimouni sagt, im Umgang mit den Besuchern habe sie festgestellt, dass sich die Wahrnehmung sensibilisiere. Viele Menschen hätten vorher keine Vorstellung davon, wie sich blinde und sehbehinderte Menschen orientieren und vorankommen. Im Dialogmuseum könnten sie es selbst erleben und ihre Fragen an die Guides stellen. Für viele sei es eine Herausforderung, sich damit zu befassen, sagt sie.

E-Scooter stehen im Weg

Ihre Arbeit im Dunkeln habe auch sie selbst bereichert, sagt El-Mimouni. Sie habe feststellen können, wie es ist, wenn man blind ist. Für sie sei das von großer Bedeutung, da ihre Sehkraft weiter schwinden könne und sie womöglich selbst erblinde. Es habe ihren Horizont erweitert – früher wusste sie etwa nicht, wie die Blindenschrift funktioniert. Sie selbst nutzt die Ausgabefunktion von Mobiltelefonen und während der Führungen eine sprechende Uhr, um sich der Zeit zu vergewissern.

Auf die Frage, was die Politik ändern könne, antwortet sie sofort: „Die E-Scooter auf den Bürgersteigen.“ Sie ständen überall im Weg, und ehe man sie wahrnehme, sei „man schon dreimal drübergefallen“. El-Mimouni würde sich deshalb feste Abstellorte wünschen, wie es sie auch für Fahrräder gibt. Ansonsten hält sie sich mit Forderungen an die Politik zurück.

Die Stiftung für Blinde und Sehbehinderte, die sich unter anderem mit der Beratung und Unterstützung von Betroffenen befasst, sieht großes Entwicklungspotential. Laut der Stiftung sind die Bewilligungsverfahren für Leistungen sehr komplex und mit vielen Hürden versehen, die abgebaut werden sollten. Die Verfahren für eine berufliche Reha würden sich in vielen Fällen über Monate hinziehen und die Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt erheblich benachteiligen.

Die Angestellten in staatlichen Stellen sollten besser geschult werden, da sie oft eine falsche Vorstellung von der Lebensrealität der Betroffenen hätten. Außerdem solle die Zeit, die notwendig ist, um technische Hilfsmittel und Arbeitsassistenz zu beantragen, auch als Arbeit gelten, da der Aufwand einen Tag in der Woche kosten könne. In der Schule wurde El-Mimouni gesagt, sie könne in zwei Branchen tätig werden: in der Hauswirtschaft oder im Büro. 

Berufsmöglichkeiten hängen von der individuellen Beeinträchtigung ab

Nachdem sie die Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen hatte, suchte sie in dem Bereich mit einer „Pro-Job“-Maßnahme des Jobcenters, die Sehbehinderte und Blinde bei der Arbeitssuche unterstützt. „Zufällig kam ich mit dem Betriebschef des Museums in Kontakt, und er hat mich motiviert, mich hier zu bewerben“, erzählt sie. Ihrer Erfahrung nach kommt es bei der Jobsuche auf die Unternehmen an: Einige gingen aktiv auf Bewerber ein, andere seien skeptisch und sendeten nicht einmal ein Ablehnungsschreiben.

In vielen Fällen würde ein Gespräch oder ein Probetag genügen, um festzustellen, ob die Sehbehinderung an der Tätigkeit hindere, doch dazu komme es oftmals gar nicht. Prinzipiell sind laut der Stiftung Beschäftigungen in allen Branchen möglich, solange die Beeinträchtigung durch Hilfsmittel oder persönliche Assistenz ausgeglichen werden kann. So wurde es durch das Gleichbehandlungsgesetz festgelegt. Welche Berufe möglich seien, hänge von der individuellen Beeinträchtigung ab, jedoch seien Arbeiten am Computer in der Regel leichter auszuüben als etwa einige handwerkliche Berufe.

Im Dialogmuseum ist die Zusammenarbeit von sehenden, blinden und sehbehinderten Mitarbeitern Alltag. Sie seien ein Team, sagt El-Mimouni. Während sie die Besucher über einen Parcours von Straßen, Brücken und Bahnen begleitet, wächst bei ihnen das Bewusstsein für die Fähigkeiten von Sehbehinderten Schritt für Schritt und Frage um Frage. Noch im Dunkeln verabschiedet sich El-Mimouni von ihren Gästen und bleibt ihnen als eine körperlose Stimme in Erinnerung.

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