Es ist Donnerstag, 5 Uhr morgens. In Kyiv ist die Sonne noch nicht aufgegangen. Da wird Julia durch Explosionen plötzlich aus dem Schlaf gerissen.
Ein schneller Blick in die Nachrichten zeigt: Russland hat die Ukraine angegriffen. Draußen heulen Sirenen, lange schreiende Töne des Krieges. Wenn die Sirenen schweigen, ist es totenstill, erzählt Julia. Krieg sei nicht immer laut und dröhnend.
Was sie am meisten schmerzt, ist das was in ihrem Kopf passiert. „Was geschieht als nächstes? Sind wir in unserer Wohnung sicher? Sind meine Freunde noch am Leben?“ - Fragen, die der Wiesbadenerin mit Wurzeln in der Ukraine durch den Kopf gehen. Ihre Gefühle kann sie nicht beschreiben, aktuell müsse sie einfach funktionieren.
Klar sei, der Angriff auf ihr Heimatland, habe ihr Leben verändert. Um nicht zu vergessen, führt sie Tagebuch.
In Kyiv für einen Geburtstagsbesuch
Ein Blick zurück. Julia lebt und arbeitet seit vier Jahren in Wiesbaden. „Es war die Neugier auf die Kultur und Sprache, die mich damals nach Deutschland geführt hat“, stellt sie fest. Ihre Eltern wohnen weiter in der Heimat der 38-Jährigen: Der ukrainischen Hauptstadt Kyiv, etwa 21 Autostunden von Wiesbaden entfernt.
Mitte Februar entschließt sich Julia ihre Mutter zum Geburtstag zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt standen bereits russische Truppen an den Grenzen. Der Krieg in der Region Donbass dauerte seit Anfang 2014 an. Aber der Luftraum über der Ukraine war sicher. „Niemand glaubte zu diesem Zeitpunkt an eine Eskalation, denn die wäre (und ist jetzt) verrückt“, sagt Julia.
„Die Kinder sind zuerst verschwunden“
Seit Donnerstag sind nach UN-Angaben bereits über 670.000 Menschen in Nachbarländer geflüchtet. Auch Julias deutscher Arbeitgeber bot ihr an, sie über das örtliche Büro in die Westukraine zu evakuieren. Sie lehnte ab. „Es mag verrückt klingen, aber es ist besser, jetzt bei meinen Eltern zu wohnen“, sagt Julia. „Ja, wir hören Angriffe und Explosionen, aber wenigstens sehen wir uns und wissen voneinander, dass wir in Sicherheit sind.“ Im Ausland, so weiß sie von Freunden, gerät man schneller in Panik um seine Angehörigen in der Ukraine. Das war Tag 4.
Solange es noch geht, beobachtet Julia das Treiben von ihrem Fenster aus. „Jeden Morgen warte ich auf die Geräusche von Vögeln, Hunden und Kindern – so wie früher“, erzählt Julia. Die Wohnung verlässt sie nur selten. Ihre Eltern wohnen in einem ruhigen Hof mit einem Spielplatz unter dem Küchenfenster. „Die Kinder sind zuerst verschwunden“, erzählt sie. Sie wurden evakuiert oder in Notunterkünften versteckt.
Von denen gebe es in der Stadt, in der zehnmal so viele Menschen leben wie in Wiesbaden, viel zu wenig. „Es ist schwierig, in einer Stadt mit knapp drei Millionen Einwohnern Notunterkünfte für alle zu haben“, stellt Julia fest. „Daher werden Keller und Tiefgaragen genutzt. Die U-Bahn dient als Schutzraum.“ Eine ihrer Freundinnen habe am Sonntagabend unter solchen Kellerbedingungen ein Kind zur Welt gebracht. „Es ist ein Junge.“
Zeichen der Hoffnung: Der Frühling
Einzig die Gewissheit bei ihrer Familie zu sein und die ersten Frühlingsboten geben Julia Hoffnung. „Wenn der Himmel klar ist, höre ich die kleinen Vögel über den Frühling singen, und das bringt mich zum Lächeln, denn es bedeutet, dass keine Schockwelle im Anmarsch ist.“ Zwitschernden Vögeln zuhören, eine Seltenheit inmitten des Chaos.
Tag 6: Kyiv steht unter Beschuss
Tag 6 im Russland-Krieg: Als wir mit Julia für diesen Text sprechen, steht ein über 60 Kilometer langer Militärkonvoi vor Kyiv. Die Zivilbevölkerung gerät immer stärker unter Beschuss. Menschen sterben. Wie es weiter geht, bleibt unklar, auch für Julia. In der Nacht auf Mittwoch entschließt sie sich doch nach Wiesbaden zurückzukehren – ein Behördentermin, der nicht verschoben werden kann.
Ihre Eltern (64 und 74 Jahre alt) werden in Kyiv bleiben. Sie wollten sich eigentlich zur Ruhe setzen, doch jetzt ist die Stadt blockiert. Menschen wie Julias Eltern, arbeiten freiwillig für die kritische Infrastruktur, versorgen die Stadt mit Wasser. „Das mag für manche Menschen wie dummer Patriotismus wirken“, stellt Julia fest. „Aber es ist die Art meines Landes, die Heimat nicht zur verlassen.“
„Vielleicht bin ich in einer Woche wieder zurück in Kyiv“, erzählt Julia am Mittwochmorgen unter Tränen. Tag 7. „Ich hoffe, dass die Stadt dann noch auf mich wartet. Und noch viel wichtiger – dass meine Eltern dann noch am Leben sind.“