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Tiefe Einblicke: Eine Kulturgeschichte des Ausschnitts

Bild: Picture Alliance

Im Jahr 2016 attestierte die britische „Vogue" dem prallen Dekolleté sein Ende. Das wirkte fast prophetisch angesichts des bevorstehenden Abgesangs auf die Lingerie-Marke Victoria's Secret, die später von knapper, die Brüste hochschiebender und den Po nur zaghaft verdeckender Reizwäsche auf schlichte, bequeme Wäsche umsatteln sollte. 


Tatsächlich erschienen etwa bei der Oscar-Verleihung 2016 Schauspielerinnen wie Jennifer Lawrence, Charlize Theron und Olivia Wilde in tief ausgeschnittenen Roben, die aber nicht den Blick auf hochgepushte Brüste eröffneten, sondern deren natürlich Form erahnen ließen.

Doch wer einen Blick auf Fotos der großen Verleihungen im laufenden Jahr wirft, könnte meinen, dass die „Vogue" vorschnell geurteilt hat: Beyoncé, Ashley Graham, Lizzo, Jennifer Chastain, Rihanna und Cardi B traten mit Dekolletés auf, die man durchaus als prall bezeichnen darf. Doch mit der lebendig gewordenen Männerphantasie standardisierter sexy Engel der Nullerjahre haben diese Frauen wenig gemein. Ihre Kurven sind nicht normiert. Der Ausschnitt und das, was er verhüllt und entblößt, ist heute so individuell wie seine Trägerin.


So allgegenwärtig und vielseitig er scheint, so umstritten war der Ausschnitt schon immer. Er mäandert zwischen Objektifizierung und Selbstermächtigung, Konventionen und Wagemut. Er wird gefeiert und verurteilt, kann als gewagt oder vulgär, als passend oder unangebracht gelten. In ihrer Rolle als Anwaltsgehilfin Erin Brokovich zeigte Julia Roberts im Jahr 2000, wie vulgär ein zu tiefer Ausschnitt am helllichten Tag wirken kann.  Dass zehn Jahre zuvor in „Pretty Woman“ einer der Höhepunkte ihrer optischen Verwandlung von der Prostituierten zur respektablen Begleitung in die Oper ausgerechnet ein weit ausgeschnittenes Kleid war, zeigt die Ambivalenz des nicht existenten Stoffes.

 

Diese Nuance des Ausschnitts erörterte John Carl Flügel in seiner „Psychologie der Kleidung“ schon 1930. „Flügel schrieb, dass ein tiefes Dekolleté, je nach Anlass gesellschaftlich akzeptiert oder abgelehnt würde. Es galt in der Abendgarderobe als durchaus angemessen. Damit aber zuhause Gäste zu empfangen, wäre in seiner Zeit deplatziert gewesen“, sagt Elisabeth Hackspiel, Professorin für Modetheorie und -geschichte an der Düsseldorfer Akademie für Mode & Design (AMD). 


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