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Schaufensterfiguren: Die Puppen-Mutter

Wenn Susanne Oelmann an einem Schaufenster vorbeigeht, betrachtet sie die gläsernen Fassaden der Konsumtempel anders als die meisten Passanten. Wer nach Feierabend durch die Straßen eilt oder ins Gespräch mit der Begleitung vertieft durch die Einkaufszone spaziert, hält häufig nur inne, wenn ein wirklich auffälliges Kleid oder ein besonders gut geschnittener Anzug Fragen aufwirft: Ob mir das auch stehen würde? Soll ich mich diesen Sommer an Orange wagen? Und ob es die Schuhe wohl auch in meiner Größe gibt?


Susanne Oelmann hingegen zerlegt das im besten Falle stimmige Bild in seine Einzelteile: Da ist die Passform der Schaufensterfigur, die den Schnitt der Kleidungsstücke erst richtig zur Geltung bringt, der elegante, überlange Hals, und da ist diese Pose, die so natürlich wirkt, dass die Betrachter sich darin selbst erkennen. Oelmann sieht aber auch, wenn etwas nicht gelungen ist. Wenn etwa der Anzug über einer zu muskulös gebauten Figur spannt oder deren Haltung regelrecht verrenkt wirkt.


„Das nennt man wohl déformation professionelle", sagt sie und lacht. Bei Schaufensterfiguren verfügt Oelmann, 55 Jahre alt, über ausgesprochen viel Professionalität. Sie leitet das Deutschland- und Österreich-Geschäft von Bonaveri, sozusagen dem Ferrari unter den Schaufenster-Mannequins. Das 1950 im italienischen Cento, in der Region Emilia-Romagna, gegründete Unternehmen adelt mit seinen Figuren die Auslagen von Boutiquen wie Hermès und Versace, von Luxus-Händlern wie Bergdorf Goodman in New York und dem KaDeWe in Berlin, aber auch von Ketten wie Zara und Mode-Ausstellungen von New York bis Frankfurt.


Bonaveri ist ein Familienbetrieb, genau wie der von Oelmann. 2007 übernahm sie die Geschäfte von ihrer Mutter; ihre erwachsenen Kinder haben ebenfalls schon „mehr als nur in die Firma hineingeschnuppert". Auch ihre Brüder bezieht sie bei wichtigen Entscheidungen ein. Eine solche fiel im vergangenen Jahr. Mit ihrem Showroom zog sie von der Düsseldorfer Innenstadt an die von Modefirmen gesäumte Kaiserswerther Straße, die nicht nur während der Modemesse von Einkäufern, Journalisten, Fotografen und Designern bevölkert wird. Hier werden die Geschäfte gemacht, die auf der Berliner Fashion Week oft ausbleiben: Ware, die später bundesweit in Boutiquen, Department- und Concept-Stores hängt, wird hier geordert.


Seit Anfang des Jahres residiert auch Susanne Oelmann hier, um noch näher an ihren Kunden zu sein. Die sollen nämlich die Figuren aus nächster Nähe betrachten, anfassen und Ideen entwickeln können. In dem hellen Raum, den sich Oelmann mit dem deutschen Label Odeeh teilt, stehen Büsten aus massivem Holz, zum Teil mit Stoff bespannt, neben weißen, filigran wirkenden Figuren in unaufgeregten Posen. Die Gesichter sind nur angedeutet, fast alle stehen auf den Zehenspitzen.


Aus Laiensicht wirken sie extrem schlank, bilden aber Konfektionsgröße 36 ab, erklärt Oelmann. Dass man sie auch für eine 32 halten könnte, die in der Modewelt so begehrte und von außen so oft gescholtene Size Zero, dürfte an den extrem langen und schmalen Gliedmaßen liegen. Der Hals, die Beine, auch die Hände der meisten Figuren seien ganz bewusst überzogen dargestellt - wofür Oelmann eine Erklärung parat hat: „Das schafft Eleganz und sorgt für die nötige Inszenierung im Schaufenster. Unsere Figuren sollen weniger die Realität imitieren als beim Betrachter Begehren wecken."


Deshalb sei auch die Passform so wichtig. Ein schon auf der Schaufensterfigur nicht perfekt sitzendes Kleid lockt eben kaum jemanden ins Geschäft: „Man kann schlechte Mode mit einer guten Figur aufwerten, aber man kann hochwertige Mode auch mit einer schlechten Figur zerstören." Der Blick der Betrachter verharrt dabei oft auf dem jeweiligen Kleidungsstück; die Figur, die es trägt, wird nur unterschwellig wahrgenommen. „Ihre Botschaft ist subtil. Die Mode steht im Vordergrund, nicht die Figuren", bestätigt Oelmann.

Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, ernte sie überraschte Reaktionen. „Oft heißt es dann: ,Schaufensterfiguren? Darüber habe ich ja noch nie nachgedacht.' So ganz stimmt das nicht. Die meisten merken nur nicht, wie die Figuren auf sie wirken. Ob ein Fenster stimmig ist, ob Farben, Hintergrund, Figuren und Mode zusammenpassen, merken die Betrachter natürlich, aber eben unbewusst."


Diese Nebenrolle stört Oelmann ganz und gar nicht: „Es ist spannend, mitzuerleben, wie Designer ihre ganz eigene DNA finden und diese dann - auch mit Hilfe unserer Figuren - in ihren Stores umsetzen. Und die Händler messen ihren Erfolg natürlich am Umsatz. Wenn wir zu dem beitragen können, macht das schon stolz." Wie groß die subtile Wirkung sein kann, bewies vergangenes Jahr eine aufwendige Installation mit einer großen Gruppe von Bonaveri-Figuren der neuen Serie „Tribe" in allen Hautfarben im Schaufenster der Mailänder Filiale von Max&Co, die nicht nur für ein enormes Plus an Besuchern sorgte, sondern auch an Verkäufen.


Gerade Luxuslabels schätzen Bonaveri-Figuren; viele lassen sich eigene anfertigen. Das Unternehmen verkauft zu 50 Prozent Exklusivmodelle, die in keinem Katalog zu finden sind. So sichern Marken wie Versace und Hermès, dass niemand so leicht ihre Schaufenster-Installationen kopieren kann. Auch für die alljährlich und diesjährig am vergangenen Montag mit der „Met Gala" eröffnete Mode-Ausstellung im Metropolitan Museum of Art in New York fertigt Bonaveri Figuren an. Ob in der Boutique oder im Museum, bei allen Figuren kommt das künstlerische Handwerk von Bildhauern zum Einsatz, die Posen und Körperformen genau studieren und dann abbilden.


Noch vor zwanzig Jahren sahen die Auslagen von Modegeschäften ganz anders aus. Schaufensterfiguren posierten auffällig, trugen Make-up, Perücken und angeklebte Schnurrbärte, sollten die Realität imitieren - manchmal täuschend echt: Mit blonder Dauerwelle eroberte etwa Kim Cattrall 1987 im Film „Mannequin" als zum Leben erwachte Schaufensterpuppe das Herz eines erfolglosen Dekorateurs.


Und dann kam Jil Sander. Zu ihrer bestechend schlichten Mode und ihrem minimalistischen Interieur passten keine Figuren mit ausladenden Perücken, knalligem Lidschatten und exaltierten Posen. In einer Ausgabe der italienischen „Vogue" stieß Sander in den Neunzigern auf eine Anzeige von Bonaveri, kontaktierte das Unternehmen und wurde die erste deutsche Designerin, die ihre Entwürfe an Figuren präsentierte, die ganz ohne große Pose und vor allem ohne Kopf auskamen. Damals ein absolutes Novum.


Kopflos war dieser Schritt nicht. Sanders Beispiel folgten immer mehr Designer und Marken, und heute sind stilisierte Figuren, die jenseits von der präzisen Passform nur andeuten und überspitzen, ein gewohnter Anblick. „Daran sind wir nicht ganz unschuldig", sagt Oelmann und klingt stolz. Das italienische Unternehmen und die Hamburger Designerin blieben einander eng verbunden, auch in der Jil-Sander-Ausstellung im Jahr 2017 in Frankfurt wurde ihre Mode an Bonaveri-Puppen gezeigt. Oelmann selbst hatte zuvor mit der Designerin in Hamburg die passenden Modelle ausgewählt.


2001 übernahm Bonaveri auch noch das Schweizer Unternehmen Schläppi. Das hatte bereits in den siebziger Jahren eine schlichte Figur für Yves Saint Laurent entworfen, deren zierliche Silhouette von Audrey Hepburn inspiriert war und die konsequenterweise auch Hubert de Givenchy gerne verwendete. Bonaveri legte den Klassiker neu auf und feiert mit unterschiedlichen Variationen der Figur bis heute Erfolge.


Der Lebenszyklus von Schaufensterfiguren ist lang, mindestens zehn Jahre werden die meisten genutzt. Wer jemals sah, wie beherzt die Figuren hinter abgeklebten Schaufenstern aus- und wieder angezogen werden, ahnt, wie robust sie sein müssen. Das passende Material zu finden war anfangs gar nicht so einfach. Als im späten 19. Jahrhundert das Einkaufen nicht mehr als reine Notwendigkeit betrachtet, sondern als Vergnügen inszeniert wurde, entstanden die ersten Schaufensterfiguren. Sie waren aus Wachs und mit Glasaugen und echten Haaren verziert, zeichneten sich aber nicht gerade durch hohe Flexibilität aus und drohten bei hohen Temperaturen auch noch zu schmelzen.


Die eigentlich für Puppen kleineren Formats bekannte Käthe Kruse war es, die in den dreißiger Jahren ein Metallskelett entwarf, so dass auch Schaufensterfiguren mit beweglichen Gelenken versehen werden konnten. Etwa zur selben Zeit schuf der amerikanische Künstler Lester Gaba mit seiner „Cynthia" eine extrem realistische Figur aus Plastik, die nicht nur auf dem Titel des Magazins „Life", sondern 1937 auch auf der Gästeliste der Hochzeit des ehemaligen britischen Thronfolgers Edward mit Wallis Simpson landete und sowohl von Tiffany & Co. als auch von Cartier mit Schmuck bedacht wurde. Das alles für eine Plastikfigur! Auch für die weniger prominenten Modelle wurde Kunststoff fortan zum meistverwendeten Material.


Heute werden die Figuren für gewöhnlich aus Fiberglas hergestellt, sagt Oelmann, bei großen Stückzahlen komme oft Kunststoff zum Einsatz. Nachhaltigkeit ist auch in diesem Nischenmarkt ein Thema; bei Bonaveri setzt man auf komplett biologisch abbaubaren Kunststoff auf Zuckerrohrbasis. Das jeweilige Material wird in eine Form aus Ton gegeben, die wiederum mit Hilfe eines Metallgerüsts entsteht. Das entwerfen und fertigen Bildhauer anhand von Moodboards und Fotografien echter Models in den gewünschten Posen an. Bis eine neue Figur in Serie gehen kann, vergehen rund zwei Monate.


Auch wenn sie heute überwiegend schlicht gehalten sind, wohnt Schaufensterfiguren noch immer eine Faszination inne, die sie wie schon in den Achtzigern auch die Leinwand erobern lässt. So überredet eine Figur die Protagonistin der Komödie „Shopaholic" aus dem Jahr 2009 anfangs noch zum folgenschweren Kauf eines Seidenschals, am Ende des Films aber applaudiert eine ganze Garde von Figuren hinter den hohen Glasfronten der New Yorker Luxusboutiquen der Heldin, die ihre Kaufsucht endlich überwunden hat.


Shopping-Exzesse sind derweil bei einem großen Auftritt von Bonaveri-Figuren im Herbst nicht zu befürchten: Wenn der Düsseldorfer Kunstpalast auf das Lebenswerk des Designers Pierre Cardin zurückblickt, wird dessen avantgardistisch-revolutionäre Mode an den Figuren präsentiert. Subtil - und umso wirkungsvoller.

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