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Thomas Mann: Wie Anleitungen zum Nachschneidern

Es gibt Namen, die sofort Bilder und Stimmungen heraufbeschwören. Tadzio ist so ein Name. Wer ihn hört oder liest, erinnert sich sofort an die wehmütige Sehnsucht, die fatalistische Melancholie und an das peinlich berührte und zugleich aufregende Gefühl, der eigenen Schwärmerei überführt worden zu sein - eben an all die Höhen und Tiefen, die Gustav von Aschenbach angesichts des schönen Tadzio erlebt. Unschuldig spielt er am Strand der von Unheil bedrohten Lagunenstadt Venedig, lässt sich nach dem Bad von seiner Mutter und der Gouvernante in wärmende Handtücher hüllen, blickt tagsüber versonnen aufs Meer und abends im Hotel schüchtern und gleichsam neugierig in die Augen seines stillen Bewunderers. Tadzio, das ist, auch dank der kongenialen Verfilmung von Luchino Visconti aus dem Jahre 1971, der schöne Junge im Matrosenanzug.


Er trägt ein „englisches Matrosenkostüm", als Gustav von Aschenbach ihn zum ersten Mal erblickt. Kunstvoll verarbeitet, verleiht es „mit seinen Schnüren, Maschen und Stickereien der zarten Gestalt etwas Reiches und Verwöhntes". Seit Königin Victoria 1846 ihren Sohn Edward im englischen Matrosenanzug porträtieren ließ, galt der als trend- und gleichsam traditionsbewusstes must have für Kinder aus gutem Hause. Die deutsche Variante bahnte sich später dank der Begeisterung für die Marine unter Kaiser Wilhelm II. ihren Weg in hiesige Kleiderschränke. Tadzio ist stets im maritimen Stil gekleidet: In blaue und weiße Leinen- und Wollkleider mit roten Details gewandet, spaziert er durch das Hotel, das der Professor einfach nicht verlassen kann, und durch die Novelle, die der Leser einfach nicht vergessen kann.


Thomas Mann schwelgt geradezu in Präzision, wenn er bis zum kleinsten Knopf nicht nur die Garderobe von Tadzio, sondern auch die seiner Familie vor dem lesenden Auge sichtbar macht. Von den schieferfarbenen, „gewollt unkleidsamen" und nüchternen Kleidern der Schwestern bis zum üppigen Perlenschmuck, den Tadzios Mutter zu ihren ansonsten betont schlichten, grauen Ensembles trägt, sind die Beschreibungen so detailliert, dass man die einzelnen Kleidungsstücke nachschneidern könnte.


Das ist nicht nur in „Der Tod in Venedig" so. In nahezu all seinen Romanen und Erzählungen widmet sich Thomas Mann - der selbst stets im Anzug und mit Krawatte geschrieben haben soll - mit einer solchen Ausführlichkeit der Kleidung, den Accessoires und dem Erscheinungsbild seiner Protagonisten, dass es umso mehr überrascht, darüber nur wenig in der Literaturwissenschaft zu finden. Eine Figur gehört zu den wenigen erforschten Ausnahmen, wenn es um Thomas Mann und die Mode geht. In ihrem Buch „Der Dandy als Grenzgänger in der Moderne" bezeichnet Anne Kristin Tietenberg sie als „die Dandy-Figur der deutschsprachigen Literatur überhaupt". Diese Figur weiß die Wirkung von Kleidung und entsprechender Attitüde für sich zu nutzen wie kein anderer: Felix Krull.


Seine Kindheit verbringt er im noch wohlsituierten Elternhaus und trägt bei besonderen Anlässen ganz standesgemäß Matrosenanzug. Wenn er seinem Patenonkel Modell für dessen Gemälde steht, schlüpft er begeistert von einer Kostümierung in die nächste und streift mit der Kleidung auch unterschiedliche Identitäten und den jeweiligen Habitus über.

Später ermöglicht diese Fähigkeit dem Sohn aus mittlerweile verarmtem Hause seine rasante Karriere vom Liftboy, der im geliehenen Anzug seinen Dienst in einem Pariser Luxushotel tut, zum wohlhabenden Marquis de Venosta, in dessen Identität und Garderobe er auf Reisen geht.


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