1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Adam Silvera: Countdown für den letzten Tag

Stellen Sie sich vor, es gäbe einen Telefondienst, der Ihnen bei Anbruch Ihres Todestages mitteilt, dass Sie innerhalb der nächsten 24 Stunden sterben werden. Würden Sie sich anmelden? Wann und warum Ihr Leben endet, bleibt ein Rätsel, aber Sie wüssten, dass Sie nicht mehr viel Zeit haben, um sich zu verabschieden und noch das ein oder andere in Ordnung zu bringen: mit der Ex-Freundin versöhnen, Finanzen regeln, noch einmal den Lieblings-Butterkuchen mit der Enkelin backen.

Einen solchen "Todesboten"-Benachrichtigungsdienst hat der US-amerikanische Autor Adam Silvera für seinen Jugendroman Am Ende sterben wir sowieso erdacht. Die Jungen Mateo und Rufus bekommen an einem 5. September kurz nach Mitternacht den gefürchteten Anruf. Aus unterschiedlichen Gründen beschließen sie, an ihrem letzten Tag einen neuen Freund zu finden, lassen sich über eine App matchen und versuchen, gemeinsam ein ganzes Leben in einen einzigen Tag zu quetschen.

Mit dieser Maximalsteigerung des Carpe-diem-Sinnspruchs scheint Silvera einen Nerv bei jugendlichen Leserinnen und Lesern in der ganzen Welt getroffen zu haben: Monatelang führte der Roman die New York Times- Bestsellerliste an, in Deutschland belegte er Platz drei der meistverkauften Jugendbücher im Jahr 2021. Allerdings kam dieser Erfolg zeitverzögert. Denn Silveras Roman erschien schon 2017 in den USA, im Jahr darauf auch in Deutschland. Zu einem internationalen Bestseller wurde er erst 2021; Plattformen wie Instagram und TikTok haben dem Todesboten - Ironie des Schicksals - ein zweites Leben geschenkt.

Newsletter

ZEIT ONLINE - Kultur

Was die Musik-, Kunst- und Literaturszene bewegt. Jede Woche kostenlos per E-Mail.

Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis.

Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt.

Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.

Für seinen eigenen Instagram-Account hat Silvera eine Umfrage auf den Straßen New York Citys gemacht, dem Ort, an dem seine Geschichte spielt. Ein Mädchen sagt: "Ich würde mich niemals für den Todesboten anmelden. Mein letzter Tag soll kein Countdown sein." Ein junger Mann sagt: "Ich wäre dabei! Dann könnte ich noch mal etwas so Verrücktes machen, dass ich damit in den Nachrichten lande." Am Ende steht es fünf zu vier für die Nichtanmelder.

In den Kommentaren unter dem Video tauschen sich etliche Nutzer darüber aus, warum oder warum sie nicht über ihren Todestag informiert werden wollen. So geht es seit Monaten. Das Internet ist ein Raketenantrieb für Silvera geworden. Tausende Jugendliche teilen dort ihre meist tränenreichen Reaktionen auf das Buch und beschreiben, wie sie trotz des Titels hofften, dass Rufus und Mateo überleben. "Sie hätten es fast geschafft", schreibt ein in die Kamera schluchzender Junge neben sein Video. Andere komponieren Stücke auf dem Klavier und schneiden Filmvorschauen. Die Rechte sind natürlich längst verkauft.

Was bleibt von mir übrig, wenn ich gehe? Dass diese urmenschliche Frage Jugendliche gerade während der Pandemie umtrieb und sein Roman in der Zeit viral ging, ist für den Autor wenig überraschend. Corona habe uns alle gezwungen, innezuhalten und zu überlegen, was im Leben am meisten zähle. Silvera ist inzwischen selbst in seine Todesboten-Welt zurückgekehrt: Im November erschien zum fünfjährigen Jubiläum von Am Ende sterben wir sowieso das Prequel Der Erste, der am Ende stirbt. Darin erzählt Silvera vom Start des Todesboten-Dienstes. Wieder schickt er zwei Jungen durch die Straßen New Yorks, Orion und Valentino heißen sie. Und wieder entspinnt sich eine Romanze.

Die Idee für seinen Todesboten entstammt Silveras eigener Familiengeschichte. Während der Anschläge vom 11. September war seine Mutter nicht weit von den Zwillingstürmen entfernt - und überlebte. Doch wenige Monate später starb sein Onkel bei einem Flugzeugabsturz. "Meine Angst, Angehörige zu verlieren, war die Grundidee für den Todesboten", sagte Silvera kürzlich in einem Time- Interview. Auch anderes fußt auf Erlebnissen des Autors. So sind die vier Hauptcharaktere alle junge Lateinamerikaner und schwul oder bisexuell. Ihre Liebesgeschichten blühen allerdings so zart auf, dass Jugendliche jeder Orientierung sich in ihnen wiederfinden können. Gleichzeitig beschreibt Silvera die Angst, sich in einer konservativen Familie zu outen, oder wie es ist, als schwules Paar in bestimmten Gegenden nicht Händchen halten zu können. Mit seinen Romanen verarbeite er eigene traumatische Erfahrungen - offen queer zu sein habe sich für ihn, der in der South Bronx aufgewachsen ist, zum Beispiel nie sicher angefühlt: "Durch die Bücher konnte ich mir vorstellen, wie mein Leben hätte aussehen können, wenn ich mich als Teenager geoutet hätte."

Einen Dienst wie den Todesboten könnte es nie geben, auch die besten Programmierer sind nicht Herr über Leben und Tod. Andere Roman-Erfindungen wären durchaus eine Bereicherung für die Realität: eine Dating-Plattform für Menschen, die ihren letzten Tag erleben, oder die "Letzte Freunde"-App, dank der Todgeweihte nicht einsam sterben müssen. Vielleicht sind auch solche Tech-Ideen gegen Vereinsamung Grund für den Erfolg bei den jungen Lesern. Ob Silveras Romanwelt Dystopie oder Utopie ist, bleibt ihnen überlassen. Der Autor hat derweil den dritten Teil angekündigt.

Zum Original