Autorinnen: Katharina Koerth und Lisa Duhm
Normalerweise würde Nils-Uwe Ahsendorf, 52 Jahre alt, jetzt hinter der Bar stehen und Getränke ausschenken. Vormittags würde sein Telefon klingeln, oft ohne Unterbrechung. Es wären Menschen am Apparat, die ein Zimmer im Hotel zur Linde buchen wollten.
Doch der Konjunktiv ist zurzeit das bestimmende Element in Ahsendorfs Erzählungen, sein Alltag ist geprägt von hätte, würde, könnte. Ahsendorf ist Pächter des ältesten Hotels auf der Nordseeinsel Spiekeroog. Er würde gern seine Gäste bewirten. Doch die dürfen nicht mehr kommen.
Touristen sind dieser Tage in Deutschland unerwünscht - auch die aus dem Inland. Alle Bundesländer haben die touristische Nutzung von Hotels und Ferienwohnungen verboten. Besonders hart trifft das die Ferienorte an den deutschen Küsten: Millionen Besucher strömen normalerweise in den kommenden Monaten an die Strände, spätestens zu Ostern beginnt die Saison.
Doch nun müssen in manchen niedersächsischen Landkreisen, etwa in Aurich, sogar Zweitwohnungsbesitzer abreisen. In Schleswig-Holstein dürfen sie nach einigem Hin und Her zwar bleiben, anreisen darf aber niemand mehr. Und in Mecklenburg-Vorpommern dürfen Zweitwohnungsbesitzer nur dann in ihre Immobilie, wenn ihre Anwesenheit dort für die Arbeit zwingend erforderlich ist.
Gerade in Zeiten sozialer Distanzierung können die Weite und die frische Brise an den Küsten eine verlockende Aussicht für Stadtbewohner sein. Und Besucher bringen Geld: Ganze Gemeinden sind vom Tourismus abhängig, sie stehen nun vor einem Dilemma. Schutz vor Corona muss sein, aber zu welchem Preis? Wie lange? Und wie umgehen mit Menschen, die auf ihr Recht pochen, die eigene Immobilie zu nutzen? Selten wird das Problem auf so vielen Ebenen so deutlich wie hier.
Eine Insel ohne Gäste, das gebe es normalerweise selbst im Winter nicht, sagt Ahsendorf. Statt sich um Urlauber zu kümmern, fegt der Hotelier jetzt regelmäßig die Kopfsteinpflasterstraße vor dem Gasthaus, so erzählt er es am Telefon. Ab und an drehe er die Wasserhähne auf oder schaue, ob das zusammengebrochene Portal der Investitions- und Förderbank des Landes Niedersachsen endlich wieder funktioniere. Er will - wie offenbar viele andere - Soforthilfen beantragen.
Ahsendorf hat seine rund 20 Mitarbeiter in zwei Hotels in ihre Wohnungen geschickt und Kurzarbeit beantragt. Mit den Banken hat er vereinbart, Kredittilgungen auszusetzen. "Wir haben den Winter gerade erst hinter uns, in dem der Kontostand runterrauscht. Normalerweise fängt das Konto ab März, April an, sich wieder zu füllen", sagt er. "Das fehlt jetzt. Das wird noch schwierig."
Auch auf der nordfriesischen Insel Amrum herrscht Ausnahmezustand, auf eine ungewöhnlich stille Weise. Dort, wo sonst Touristen an den Strand pilgern, sich im Café ein Stück Friesentorte gönnen oder über den Dünenwanderweg spazieren, ist es nun leer. Es darf nur kommen, wer einen Erstwohnsitz hat, einen Arbeitsvertrag, Verwandte ersten Grades oder eine Ausnahmegenehmigung. "Hier herrscht absolute Ruhe. Das haben wir sonst nie", sagt Frank Timpe von der Amrum Touristik.
Endlich einmal haben die Insulaner ihre Insel für sich, eigentlich schön, könnte man meinen. Doch lauscht man Timpes Erzählungen, wird schnell klar: Die Sorgen überwiegen. Richtig genießen kann das hier niemand. "Allein bis zum 19. April kalkulieren wir für unsere Insel Mindereinnahmen von 14 Millionen Euro", sagt Timpe. Geld, das die Touristen nicht für Übernachtungen, Kurtaxe, Restaurantbesuche ausgeben. Geld, das fehlt.
Nötig seien die Regelungen, das verstehe auf Amrum jeder, sagt Timpe. Auch die Inselbewohner müssten ihre Gesundheit schützen. Die nächste Klinik liegt auf der Nachbarinsel Föhr, dort gibt es auch eine kleine Überwachungseinheit inklusive Notfallbeatmung. Einer größeren Anzahl kranker Touristen wäre sie schlicht nicht gewachsen.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die gern kommen würden, aber nicht dürfen. Vermieter hätten Gäste heimlich auf die Insel geschmuggelt, hieß es etwa von Fehmarn. Sie hätten die Urlauber einfach mit dem eigenen Pkw vor der Seebrücke abgeholt, die Festland und Insel verbindet. Die Polizei konnte die Gerüchte zwar nicht erhärten, kontrolliert seitdem allerdings vor Ort und musste schon einige Anreisende abweisen.
Besondere Aufregung löste in der vorvergangenen Woche auch die Vorschrift aus, dass Besitzer von Zweitwohnungen in Schleswig-Holstein abreisen müssen. Die Wohnsitze sind ein Politikum für sich: Erst schienen sie vom Tourismusverbot ausgenommen, dann hieß es, die Eigentümer müssten gehen. Eilanträge scheiterten vor Gericht. Am vergangenen Montag aber ruderte die Landesregierung zurück. Zwar sind Neuanreisen in Zweitwohnungen ohne triftigen Grund demnach weiter untersagt. Aber wer schon da ist, darf bleiben - alle anderen haben Pech gehabt.
So wie Kirsten und Rolf Henniges aus Hamburg. Die 57-Jährige und der 66-Jährige fahren häufig in ihr Ferienhaus an der Ostsee. Am Anfang der Hamburger Ski-Ferien war das Paar in Tirol - und begab sich nach der Heimkehr freiwillig im Landkreis Plön in Quarantäne. Zwei Wochen lang seien sie nur mit dem Hund rausgegangen, sagt Kirsten Henniges. Sie seien symptomfrei geblieben, und so habe sie sich am vorvergangenen Samstag auf ihr Fahrrad geschwungen und sei in den Nachbarort zum nächsten Supermarkt geradelt.
Dort habe man ihr zunächst kein Toilettenpapier verkaufen wollen: Nachdem eine Mitarbeiterin sie gefragt habe, ob sie im Erst- oder Zweitwohnsitz dort wohnen würde, sei sie als "Schmarotzer" beschimpft worden. "Was wollen Sie überhaupt noch hier?", habe die Mitarbeiterin gefragt. Sie habe Henniges zunächst kein Klopapier geben wollen, am Ende habe sie es doch bekommen.
Bestätigen lässt sich die Geschichte nicht, aber derzeit machen immer wieder Erzählungen von einem angespannten Verhältnis zwischen Einheimischen und Zweitwohnungsbesitzern die Runde. Auch diese Auswirkungen haben die Corona-Verordnungen.
Am Tag nach dem Supermarktvorfall, sagt Kirsten Henniges, seien sie abgereist - allerdings aus beruflichen Gründen. Wiederkommen würden sie gern, sagt sie, "auch wenn das Verbot für uns persönlich kein großes Problem ist, im Gegensatz zu Familien mit kleinen Kindern, die ihrer Stadtwohnung entfliehen wollen".
Margret Wenzel und ihr Mann hielten sich nicht an die Abreiseanordnung, sondern blieben auf Anraten eines Anwalts in ihrem Forsthaus am Wald in Behrensdorf. Seit 30 Jahren besitzen sie die Immobilie. Die Rentner pendeln zwischen Berlin und dem Ort an der Ostsee, insgesamt verbringen sie nach eigenen Angaben fast sechs Monate des Jahres dort. "Wir sind seit Mitte Januar hier, weil wir uns hier am sichersten fühlen", sagt Margret Wenzel.
Sie habe Verständnis dafür, dass Pendler nicht hin- und herfahren dürfen, auch dass der Strand nicht stark genutzt werden dürfe. Aber dass Zweitwohnungsnutzer nun offenbar bei einigen unwillkommen sind, entsetzt die 65-Jährige: "Ich habe nicht verstanden, dass sich die Leute so schnell ändern können, wo viele hier doch auf den Tourismus angewiesen sind." Ein Bekannter habe auf WhatsApp geschrieben: "Haha, wie ist es denn in Berlin? Hier dürft ihr ja nicht mehr sein." Sie hätten sich "regelrecht im Wald versteckt", sagt Wenzel, bis sie dann doch offiziell bleiben durften.
Der Behrensdorfer Bürgermeister Manfred Krumbeck, 70 Jahre alt, versucht zu vermitteln. Die Polizei habe anfangs an einigen Türen geklingelt und Zweitwohnungsnutzer zur Abreise aufgefordert, erzählt er. Er könne die Wut derjenigen verstehen, die damals abgereist sind und nun nicht wiederkommen dürfen: "Wenn jemand die Polizei ruft, weil vor meinem Haus ein Auto mit Hamburger Kennzeichen steht, dann ist das schon heftig."
Einigen der verbliebenen Zweitwohnungsbesitzern hat er nun Bestätigungen geschrieben, dass sie nicht touristisch hier seien. Fürs Armaturenbrett der Autos. Er versteht aber auch die Ängste der Anwohner vor dem Virus, sagt Bürgermeister Krumbeck; er hoffe, dass Anfeindungen Einzelfälle bleiben.
Auf Spiekeroog sorgt man sich wegen der ausbleibenden Touristen vor der wirtschaftlichen Zukunft. "Wenn es in ein paar Monaten wieder gebremst losgeht und das Ganze nur zwei, drei, vier Monate dauert, dann wird der Tourismus hier mit einem blauen Auge davonkommen", sagt Hotelier Ahsendorf. "Wenn die Urlauber erst nächstes Jahr wieder kommen dürfen, dann gibt es Pleiten."
Auch in Sankt Peter-Ording sind die Folgen der Corona-Beschränkungen dramatisch: Das Kontaktverbot und die Schließung "kamen wie ein Vorschlaghammer", sagt Sebastian Herbst, dessen "Bistro Schulz" nahe der Badbrücke liegt, wo sich im Sommer Touristen tummeln. "Wir sind ein reiner Saisonbetrieb, im Sommer verdienen wir das Geld, um über den Winter zu kommen. Das ist im Februar oder März aufgebraucht, und dann sehnt man sich nach den Osterferien." Das Osterwochenende sei das stärkste Wochenende im Jahr - nun fallen diese und weitere Einnahmen weg.
Herbst hat alle Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt, insgesamt sechs im Bistro und sechs im zweiten Restaurant, einem Steakhaus. Darunter sind auch Saisonkräfte, die er zum März angestellt hatte. Der drastische Schritt beschäftigt Herbst: "Die Mitarbeiter müssen ihre Familien davon ernähren", sagt er. Einer habe drei kleine Kinder. Soforthilfen habe er schon beantragt.
Die Unsicherheit sei aber groß: "Man kann nicht planen", sagt er, niemand wisse, wie lange die Krise dauert. Über den April komme er noch irgendwie, "im Mai würde es dann eng werden". Die Gehälter der Kurzarbeiter müsse er weiter vorauszahlen und bekomme sie erst 14 Tage danach wieder erstattet. Wenn er auch im Mai noch nicht öffnen kann, müsste er wohl einen KfW-Kredit beantragen, sagt er.
Auf Spiekeroog ist Hotelier Ahsendorf noch zuversichtlich, dass das Hotel zur Linde die Krise übersteht - und er hat Verständnis dafür, dass die Urlauber abreisen mussten. Durch sie würde Covid-19 sonst wohl massenhaft verbreitet, sagt er. Grund zur Sorge gibt es offenbar: Auf Spiekeroog gab es bereits drei Corona-Fälle, darunter ein Gast, bestätigt Bürgermeister Matthias Piszczan. "Ich gehe nicht davon aus, dass es dabei bleibt", sagt er. Ein Krankenhaus gibt es in dem 800-Seelen-Dorf nicht.
Die Inselpraxis schreibt in einem offenen Brief an die Bürger, sie mache bei Bedarf Corona-Abstriche in einem Bauwagen vor dem Gebäude. Dazu solle man sich unbedingt vorher anmelden, denn eine Erkrankung der einzigen beiden Ärzte wäre fatal: "Ein Infektionsfall mit Covid-19 würde unsere Praxis und uns für 14 Tage mit Quarantäne blockieren", heißt es in dem Dokument. "Die allgemeine ärztliche Versorgung wäre damit in Gefahr."